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VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 14.10.2008 - 4 A 2690/06 - asyl.net: M14675
https://www.asyl.net/rsdb/M14675
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Dorfschützer, Weigerung, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, PKK, Änderung der Sachlage, Gefahr für die Allgemeinheit, Straftat, versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die zugunsten des Klägers getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Recht widerrufen. [...]

Allerdings kann die Beklagte den Widerruf nicht darauf stützen, dass sich die zum Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung des Klägers maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass für den Kläger bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. [...]

Ausweislich der Gründe des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 30. Oktober 1995 ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft einerseits wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit sowie andererseits deshalb zuerkannt worden, weil sowohl seitens der türkischen Sicherheitskräfte - Aufforderung, das Dorfschützeramt zu übernehmen - als auch seitens der PKK Druck auf ihn ausgeübt worden ist.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Gerichts, die mit derjenigen des Nds. Oberverwaltungsgerichts übereinstimmt, unterliegen Kurden wegen ihrer Volkszugehörigkeit keiner landesweiten, vom türkischen Staat ausgehenden oder diesem zuzurechnenden politischen Verfolgung. Dabei kann offen bleiben, ob die im Südosten der Türkei ansässigen kurdischen Volkszugehörigen derzeit einer regionalen oder örtlich begrenzten Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, denn dem genannten Personenkreis steht im Westen der Türkei, vor allem in den dortigen Großstädten, grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (so auch die std. Rechtsprechung des Nds. OVG, vgl. nur Urteil vom 18. Juli 2006 - 11 LB 264/05 -). Dabei waren die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei bereits zum Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung des Klägers so, dass Kurden, die in ihrer Heimatregion Repressalien seitens der türkischen Sicherheitskräfte in Form von z.B. Verhören, kurzfristigen Festnahmen wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK oder der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, oder aber Forderungen seitens der PKK, Unterstützungshandlungen zu leisten, ausgesetzt waren, durch Abwanderung in die westlichen Teile der Türkei entgehen konnten (vgl. nur Urteil des erkennenden Gerichts vom 15. August 1996 - 4 A 1900/94 -). Ebenso wenig müssen und mussten auch schon zum Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung des Klägers kurdische Volkszugehörige mit politisch motivierter Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung oder Verfolgungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wehrdienstleistung befürchten (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 26. Februar 198 - 1 1 L 2641/96 -).

Nach dem soeben Dargelegten haben sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Umstände nicht nachträglich erheblich geändert. Die Voraussetzungen für einen Widerruf insoweit liegen somit nicht vor (zum Erfordernis der nachträglichen Änderung der Verhältnisse vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, DVBl. 2001, 216 ff.).

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist jedoch rechtlich nicht zu beanstanden, soweit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesen auf § 60 Abs. 8 AufenthG stützt. Von einem Nicht-mehr-Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen i.S.v. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auch dann auszugehen, wenn der Ausländer nach der Anerkennung den Tatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG verwirklicht hat.

Nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG findet § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. [...]

Der Kläger ist durch Urteil des Landgerichts Stade vom 14. September 2000 wegen versuchten Totschlags jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unerlaubten Besitzes und unerlaubten Führens einer halbautomatischen Selbstladewaffe zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Allerdings führt diese Verurteilung trotz deutlicher Überschreitung des Mindestmaßes von drei Jahren noch nicht quasi automatisch zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Darüber hinaus ist erforderlich, dass im konkreten Fall eine Wiederholungsgefahr anzunehmen ist. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung sowie das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters, seine Entwicklung und seine Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, wonach Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko behaftet sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -).

Im vorliegenden Fall ist von einer Wiederholungsgefahr ernsthaft auszugehen. Bereits durch die in der Höhe der gegen den Kläger erkannten Freiheitsstrafe (fünf Jahre trotz Annahme verminderter Schuldfähigkeit) zum Ausdruck kommende Schwere der Tat und die Deliktsart (versuchtes Tötungsdelikt) ist eine Wiederholungsgefahr indiziert. Hinzu kommt, dass der Kläger, obwohl Ersttäter, die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe in vollem Umfang verbüßen musste, weil seine Gesuche um vorzeitige Entlassung mangels günstiger Sozialprognose abgelehnt worden sind. Vor seiner Entscheidung über den Antrag auf vorzeitige Entlassung zum 2/3-Zeitpunkt hat die seinerzeit zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover zu der Frage, ob die in der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit des Klägers fortbesteht, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Der Facharzt für Psychiatrie und Nervenheilkunde ... kam in seinem Gutachten vom 30. August 2003 zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die Gefährlichkeit des Klägers fortbestehe, woraufhin der Antrag auf vorzeitige Entlassung abgelehnt wurde. [...]

Zwar sind nach Entlassung aus der Haft und Erstellung des letzten Gutachtens inzwischen nahezu 3 1/2 Jahre vergangen. Nach Überzeugung des Gerichts besteht jedoch nach wie vor nicht nur die entfernte Möglichkeit einer Wiederholungsgefahr. Dabei übersieht es nicht, dass der Kläger - wie sich aus dem beigezogenen Vorgang der Führungsaufsichtsstelle bei dem Landgericht Stade ergibt - regelmäßig Kontakt zu seiner Bewährungshelferin hat, alle abgesprochenen Termine einhält und der Bewährungsverlauf insgesamt als positiv bezeichnet wird. Auch während seiner Haftzeit hat sich der Kläger innervollzuglich unproblematisch geführt. Die mit seinem Fall befassten Gutachter haben dieses Verhalten jedoch als lediglich zweckgesteuert beurteilt und waren sich einig, dass eine tatsächliche Änderung früherer Einstellungen und Verhaltensweisen nicht stattgefunden habe. Auch Äußerungen des Klägers, wie z.B. er schäme sich für seine Tat und bereue sie jeden Tag (Seite 29 des Gutachtens vom 17. Januar 2005), ist insoweit keine Bedeutung beigemessen worden. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger in der Zeit nach seiner Haftentlassung mit sich und seiner Tat ernsthaft auseinandergesetzt hat, liegen nicht vor. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass er sich sachlich-kritisch mit seiner Persönlichkeit und seinem Lebensweg beschäftigt hat. Vielmehr hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt, keine "Vergangenheitsbewältigung" betrieben zu haben. Er hat erklärt, dass er eine eigentliche Therapie nach Haftentlassung nicht gemacht habe. Seine Therapie seien seine Kinder, sein Job und seine (jetzige) Familie. Für dass was früher geschehen sei, schäme er sich noch heute. Er könne sich jedoch nicht mehr mit der Tat beschäftigen; es sei ihm wichtiger, in die Zukunft zu blicken. Bei dieser Sachlage ist zu befürchten, dass der Kläger erneut durch Straftaten von nicht nur geringer Schwere in Erscheinung treten wird. In diesem Zusammenhang kann nicht unerwähnt bleiben, dass der Kläger bereits im Juli 2006 erneut "auffällig" geworden ist. Zwar ist das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wegen versuchter Nötigung am 15. Februar 2007 durch das Amtsgericht Stade (Az.: ... eingestellt worden, allerdings nur gemäß § 153a StPO nach Erfüllung einer Arbeitsauflage. Der Umstand, dass der Kläger in familiärer Gemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin und dem jüngst geborenen gemeinsamen Kind lebt und seit längerer Zeit in einem festen Beschäftigungsverhältnis steht, ist nicht ausreichend, die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr zu erschüttern. [...]