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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.10.2008 - 1 LB 14/07 - asyl.net: M14677
https://www.asyl.net/rsdb/M14677
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Anerkennungsrichtlinie, allgemeine Gefahr, Situation bei Rückkehr, Kriminalität, Übergriffe, willkürliche Gewalt, interner Schutz, Nordirak, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Bagdad, Saddam Fedayyin
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

II. Die Berufung ist begründet. Der Kläger kann keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen. [...]

Das Gericht hat in einem vergleichbaren Fall in seinem Urteil vom 19. September 2008 - 1 LB 17/08 - zu einem Schutzanspruch nach § 60 Abs. 7 AufenthG ausgeführt: [...]

An diesen Ausführungen ist auch für die vorliegende Entscheidung festzuhalten.

Die jüngsten Auskünfte und Lageberichte über die Situation im Irak bestätigen die vorstehende Beurteilung.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06.10.2008 - Stand August 2008 - beurteilt die Sicherheitslage im Irak zwar noch immer als "verheerend", meldet aber eine deutliche Abnahme der sicherheitsrelevanten Vorfälle - insbesondere einen "deutlichen" Rückgang terroristischer Angriffe (a.a.O., S. 12) - und eine "deutlich" bessere Sicherheitslage in der Region Kurdistan-Irak (a.a.O., S. 14). An der Beurteilung, dass sich im Irak mehrere ineinandergreifende Konflikte überlagern, wird festgehalten (a.a.O., S. 4). Gefährdungen durch Kriminalität, insbesondere Tötungshandlungen, Folter und Entführungen, bestehen weiterhin (a.a.O., S. 13). Die Versorgungslage wird als gut, die medizinische Versorgung als "angespannt" bezeichnet, sie wird allerdings in Bezug auf die sog. Binnenvertriebenen außerhalb des Nordirak "schwierig" beurteilt (a.a.O., S. 5, 22, 29). Für Rückkehrwillige bestehen Hilfsprogramme, die auch finanzielle Unterstützungszahlungen und die Verteilung von Nahrungsmitteln umfassen (a.a.O., S. 27, 28).

Dem "Country of Origin Report Iraq" des Innenministeriums (Home Office) Großbritanniens vom 15.08.2008 ist zu entnehmen, dass die Zahl der Gewaltopfer und der Terrorattacken im Irak seit Oktober 2007 zurückgegangen ist (par. 9.08, 9.16); auch in der Region Bagdad, die als "most violent area" galt, sei die Gewalttätigkeit zurückgegangen ("major drop in violence"; par. 9.29). Neuere Bewertungen der Sicherheitslage im Bereich Bagdad sprächen von einer generell stabilen Lage, ungeachtet einzelner Sprengstoffanschläge (lEDs) und Autobomben gegen Zivilisten und Sicherheitskräfte (par. 9.31). Außerhalb von Bagdad fokussiere sich die Gewalt auf die Regionen Kirkuk und Mosul (par. 9.88), während im Nordirak eine stabile Sicherheitslage bestehe (par. 9.86). Entführungen blieben ein ernstes Problem, insbesondere bei Personen, die als wohlhabend angesehen werden (par. 10.05, 10.11).

In dem "Update" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) zu den aktuellen Entwicklungen im Irak vom 14.08.2008 wird von einer "seit Monaten verbesserten Sicherheitslage" im Irak (S. 3) berichtet; als stabilitätsfördernde Faktoren werden die Verschiebung des Kirkuk-Referendums, die Verabschiedung des Haushalts 2008 und des Amnestiegesetzes und die Rückkehr des "sunnitischen Blocks" in die irakische Regierung genannt. Innenpolitische Probleme gingen (weiterhin) von bewaffneten sunnitischen Stämmen (Bürgerwehren) und schiitischen Milizen aus (S. 5). Die Sicherheitslage habe sich allgemein im Zentral- und im Südirak aufgrund der US-Sicherheitsoffensive bedeutend verbessert, was sich allerdings nicht auf "niederschwellige" Gewalt (Einschüchterungen, Entführungen, Vertreibungen) beziehe (S. 6). Ethnische oder religiöse Minderheiten seien, je kleiner sie sind, umso schutzloser gegenüber gewaltsamen Übergriffen (S. 13). Ziel von Drohungen, Belästigungen, Vertreibungen, Entführungen und Mordanschlägen könnten sunnitische "Verräter", die mit den US-Streitkräften kooperierten, schiitische Anhänger des "Supreme Council" oder Milizionäre und Männer mit "westlicher" Kleidung und Haartracht sein, weiterhin Journalisten, Beschäftigte der US-Streitkräfte, Führungspersönlichkeiten auf Provinz-, Ministerial- und Regierungsebene, Ärzte, Akademiker und ehemalige Politiker und Baath-Mitglieder (S. 14, 15). Die Angaben zur Versorgungslage decken sich i.w. mit den Berichten des Auswärtigen Amtes bzw. des britischen Innenministeriums (s.o.).

Insgesamt lässt sich daraus eine nach wie vor angespannte Sicherheitslage im Irak entnehmen, die sich gegenüber früheren Berichten (in bestimmten Bereichen) "deutlich" verbessert hat, aber angesichts der weiterhin "schwelenden" Konfliktherde zwischen den verschiedenen innerirakischen Konfliktparteien noch immer als labil bezeichnet werden muss. Die terroristische und kriminelle Gefährdung (auch) von Zivilpersonen kann sich abhängig von der begrenzten Stabilisierung der Sicherheitslage weniger entfalten, ist aber nach wie vor - insbesondere - für die im Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (a.a.O.) benannten "Risikogruppen" virulent.

Eine Gefährdung von Rückkehrern im Irak ist danach nicht generell auszuschließen, andererseits aber nicht - nach dem im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG anzuwendenden rechtlichen Maßstab - für jeden einzelnen Rückkehrer als individuell beachtlich wahrscheinlich anzusehen (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 21.02.2006, 1 B 107.05, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 323; bei Juris Tz. 3). [...]

Die Rückkehrprognose für den Kläger ist allein im Hinblick auf seine Herkunft aus Bagdad nicht gefährdungsbegründend. In Bagdad ist eine individuelle Gefährdung des Klägers oder eine "Gefahrverdichtung" unter Zugrundelegung der (im Urteil des Gerichts vom 19.09.2008 - a.a.O. - angegebenen) Maßstäbe für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht beachtlich wahrscheinlich. Unabhängig davon besteht die in Bagdad verbleibende Gefährdung nicht landesweit; der Kläger kann ihr insbesondere im Norden des Landes ausweichen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.06.2008, a.a.O., Tz. 22, 25).

Auch unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer sog. "Risikogruppe" (s.o.: SFH v. 14.08.2008, S. 14, 15; ebenso: Lagebericht des AA vom 16.10.2008, S. 19) ergibt sich für den Kläger nichts anderes. Nimmt man seine Zugehörigkeit zu den sog. "Saddam Fedayyin" zwischen Dezember 2002 und Anfang April 2003 (s. Protokoll der Anhörung der Beklagten vom 03.06.2003, S. 3 f.) ungeachtet der beachtlichen Glaubwürdigkeitszweifel, die die Beklagte angesichts des widersprüchlichen Vorbringens des Klägers erhoben hat (s. S. 4 des Bescheides vom 13.02.2004), als gegeben an, ist eine beachtlich wahrscheinliche, individuelle Gefährdung im Rückkehrfall nicht festzustellen. Der Kläger war nach seinen Angaben im Alter von 21 Jahren nur kurze Zeit bei den "Saddam Fedayyin", nämlich vier Monate lang. [...] In ca. vier Monaten kann der Kläger in dieser Organisation über die Ausbildung kaum hinaus gelangt sein. [...] Eine Gefährdung, wie sie bei einem bekannteren, mehrjährig aktiven (studentischen) Jugendfunktionär einer Baath-Jugendorganisation angenommen wird (vgl. SFH, Auskunft v. 04.12.2008), ist im Falle des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich. Bereits im angefochtenen Bescheid vom 13. Februar 2004 (S. 4) ist zutreffend darauf hingewiesen worden, dass auf einfache Baath-Mitglieder keine zielgerichteten Übergriffe Dritter erfolgen; dies mag unmittelbar nach dem Sturz des Saddam-Regimes in einzelnen Regionen noch anders gewesen sein. [...]