VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 12.09.2008 - 3 A 185/08 - asyl.net: M14683
https://www.asyl.net/rsdb/M14683
Leitsatz:

Subjektive Nachfluchtgründe, die zwischen der mündlichen Verhandlung im Asylerstverfahren und der Ablehnung des Antrags auf Berufungszulassung geschaffen werden, sind nicht gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG von der Geltendmachung im Folgeverfahren ausgeschlossen; Flüchtlingsanerkennung wegen öffentlichkeitswirksamer Beteiligung an Protesten vor dem iranischen Generalkonsulat.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Berufungszulassungsverfahren, Drei-Monats-Frist, exilpolitische Betätigung, Oppositionelle, Überwachung im Aufnahmeland, SPI, Besetzung, Auslandsvertretung, Medienberichterstattung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Folgeantrag
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Subjektive Nachfluchtgründe, die zwischen der mündlichen Verhandlung im Asylerstverfahren und der Ablehnung des Antrags auf Berufungszulassung geschaffen werden, sind nicht gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG von der Geltendmachung im Folgeverfahren ausgeschlossen; Flüchtlingsanerkennung wegen öffentlichkeitswirksamer Beteiligung an Protesten vor dem iranischen Generalkonsulat.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in seiner Person und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Wege des Asylfolgeverfahrens, weil sich die Sachlage nach Abschluss des ersten Asylverfahrens zu Gunsten des Klägers dergestalt geändert hat (§ 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), dass er bei einer Rückkehr in den Iran nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblicher Verfolgung rechnen müsste. Soweit der angefochtene Bescheid vom 6. Mai 2008 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und aufzuheben. Der Kläger hat die neuen Tatsachen insbesondere auch innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgetragen, denn es war ihm nicht möglich, den Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens im Asylerstverfahren geltend zu machen. Zur Zeit des Vorfalls im Juni 2003 hatte der Kläger einen Berufungszulassungsantrag gemäß § 78 Abs. 4 AsylVfG beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht gestellt, im Rahmen dessen er neue Tatsachen und Beweismittel nicht einführen konnte (vgl. Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 71 Rn 52 ff.). [...]

Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran wegen exilpolitischer Aktivitäten politische Verfolgung droht.

Die Gefahr erheblicher Sanktionen exilpolitisch aktiver Immigranten besteht nach der Rechtsprechung (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 02.05.2008 - 4 LA 183/08 -; Urt. v. 22.06.2005 - 5 LB 51/02 -; Bayer. VGH, Urt. v. 13.06.2007 - 14 B 05.30354 - juris, jew. m.w.N.) nur für solche Personen aus dem Iran, die bei ihren Aktivitäten besonders hervortreten und deren Gesamtverhalten sie den iranischen Stellen als ernsthafte, auf die Verhältnisse im Iran einwirkende Regimegegner erscheinen lassen. Danach reicht nicht bereits die exilpolitische Betätigung als solche aus, sondern die exilpolitische Tätigkeit muss den Sicherheitsbehörden des iranischen Staates bekannt geworden und außerdem anzunehmen sein, dass die Sicherheitsbehörden diese Tätigkeit als erhebliche, den Bestand des Staates gefährdende oppositionelle Aktivitäten bewerten. Das ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen und nur dann zu bejahen, wenn der Ausländer sich bei seinen Aktivitäten persönlich exponiert hat; eine einfache Mitgliedschaft in oder die Teilnahme an Veranstaltungen der von den Staatssicherheitsbehörden im Iran für oppositionell und regimefeindlich gehalten Organisationen hingegen führt noch nicht zu einer Einstufung als Gegner des iranischen Staates (Nds. OVG, Urt. v. 22.06.2005 - 5 LB 51/02; bestätigend: Beschl. v. 02.05.2008 - 4 LA 183/08 -).

Die Rechtsprechung geht dabei davon aus, dass der iranische Geheimdienst exilpolitische Aktivitäten von iranischen Asylbewerbern in Deutschland beobachtet und auch grundsätzlich in der Lage ist, sie aufgrund von Namensnennungen und der Veröffentlichung von Lichtbildern zu identifizieren (Bayer. VGH, a.a.O.).

Diese Einschätzung deckt sich mit der des Auswärtigen Amtes, welches in seinem Lagebericht vom 18. März 2008 davon ausgeht, dass zwar allein das Stellen eines Asylantrages nicht zu staatlichen Repressionen führt, iranische Stellen die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen aber genau beobachten, allerdings auch davon ausgehen, dass viele iranische Asylbewerber in Deutschland Oppositionsaktivitäten entwickeln, um einen Nachfluchtgrund geltend machen zu können.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers die Annahme rechtfertigen, er werde bei den bei einer Rückkehr in den Iran zu erwartenden Nachforschungen als politischer Gegner des iranischen Staates eingestuft.

Der Kläger hat sich an der der Besetzung des iranischen Generalkonsulats vom ... in der Weise beteiligt, dass er an einer Demonstration vor dem Konsulat teilgenommen hat, in deren Verlauf aus der Gruppe der Demonstranten heraus, Eier, Tomaten und Steine in Richtung des Konsulats geworfen und Embleme und Flaggen beschädigt worden sind, und er auch selbst Eier und Tomaten geworfen hat. Aufgrund dessen ist gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden und vom Amtsgericht am ... ein Strafbefehl erlassen worden.

Dass sein Verhalten im Zusammenhang mit dem Vorfall vom ... insoweit auch Straftatbestände erfüllt, führt wegen des damit verbundenen politischen Protestes nicht zu einer anderen Beurteilung. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Zeitungsberichte und des Videobandes ist über die Veranstaltung am ... in den Medien berichtet worden. In der Bildzeitung vom ... ist der Kläger auf einem großen Foto zu sehen, wie er von Polizisten abgeführt wird. Die vorgelegten Unterlagen verdeutlichen, dass die Aktion bundesweit Aufsehen erregt hat. Dabei wurde nicht lediglich über die Aktion selbst berichtet, sondern der Berichterstattung lässt sich auch entnehmen, dass der Protest sich gegen die iranische Regierung richtete. Gerade wegen des konkreten politischen Bezuges ging die Aktion über allgemeine Unmutsbekundungen im Hinblick auf den Iran hinaus. Wegen des allgemeinen Interesses an der Aktion und des zum Ausdruck gebrachten Protestes ist auch davon auszugehen, dass die iranischen Behörden ein erhebliches Interesse an der Verfolgung der Aktionsteilnehmer haben. Hinzu kommt, dass eine solche Aktion regelmäßig ein größeres Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen geeignet ist, als beispielsweise Informationstische oder Ähnliches. Ob die Aktion geeignet ist in den Iran hineinzuwirken, kann offen bleiben, weil solche Aktion jedenfalls mit einer besonderen Provokation verbunden ist, die insbesondere auch darin liegt, dass ein unmittelbarer Bezug zu den betroffenen Einrichtungen und deren Mitarbeitern hergestellt wird. Die Aktion war wegen des Medieninteresses und dem damit verbundenen Interesse in der Öffentlichkeit grundsätzlich geeignet, dem Ansehen des iranischen Staates in der Öffentlichkeit zu schaden.

Schon wegen der Teilnahme an der Aktion am ... hat der Kläger, der durch die Einsichtnahme des Generalkonsulate in die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten - identifizierbar ist, bei einer Rückkehr in den Iran politische Verfolgung zu befürchten. Dass der Kläger identifiziert werden kann und die Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung besteht, davon geht im Übrigen auch die Beklagte aus. Verstärkt wird die Gefahr durch die weiteren, jedenfalls seit 2006 durchgängig entfalteten Aktivitäten des Kläger für die SPI.

3. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist hier nicht ausgeschlossen, obwohl es sich bei den exilpolitischen Aktivitäten des Klägers, von denen seine Teilnahme an dem Vorfall am die am schwersten wiegende ist, um einen subjektiven Nachfluchtgrund handelt. Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrages erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrages selbst geschaffen hat. Darunter fallen hingegen nicht exilpolitische Aktivitäten, die - wie hier - in dem Zeitraum zwischen der mündlichen Verhandlung im Asylerstverfahren und dem Beschluss im Rechtsmittelverfahren unternommen wurden (vgl. Marx, a.a.O., § 28 Rn 115). Erst durch den Beschluss des Nds. OVG v. 10. Februar 2006 - 5 LA 241/02 - wurde der Asylerstantrag des Klägers unanfechtbar abgelehnt. Die nach der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht bis dahin entfalteten exilpolitischen Aktivitäten konnte der Kläger - wie ausgeführt - in dem Erstverfahren nicht geltend machen. [...]