VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 09.09.2008 - 10 A 150/06 - asyl.net: M14685
https://www.asyl.net/rsdb/M14685
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, exilpolitische Betätigung, Oppositionelle, CPI, Überwachung im Aufnahmeland, Ankettungsaktion, Auslandsvertretung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG, § 3 Abs. 1, 4 AsylVfG, da er im Iran den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist, dementsprechend ist die Beklagte zu verpflichten (1.); [...]

Das Gericht hat die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten, insbesondere seinen Teilnahmen im Jahr an zwei Ankettungsaktionen vor Gebäuden iranischer Vertretungen in Deutschland, die eingebettet sind in weitere exilpolitische Aktivitäten - wenn auch niedrigeren Profils - bei einer Rückkehr in den Iran aus politischen Gründen verfolgt würde.

aa) Die Gefährdung von iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung stellt sich für das Gericht in Auswertung der hierzu in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen im Grundsatz wie folgt dar:

Es ist davon auszugehen, dass iranische Stellen die im Ausland, also auch in Deutschland, tätigen Oppositionsgruppen genau beobachten (vgl. bereits seit längerem die Lageberichte des Auswärtigen Amtes über den Iran; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 04.04.2006; Deutsches Orient-Institut vom 10.10.2005; Bundesamt für Verfassungsschutz vom 25.05.2004, 09.09.2005). Mögen iranische Stellen die oppositionellen Exilgruppen sogar umfangreich bespitzeln und ausforschen, so bedeutet dies jedoch nicht, dass eine Gefährdung für Teilnehmer an exiloppositionellen Veranstaltungen und Aktionen unterschiedslos bestünde, kehrten sie in den Iran zurück. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (vgl. z.B. die Auskünfte vom 04.01.1999, 23.08.2000, 01.03.2001, 28.01.2003 und 25.05.2004) sieht der Iran grundsätzlich alle oppositionellen Gruppen im Exil sowie regimekritische Einzelpersonen als potentielle Bedrohung an, wobei es zunächst unerheblich sei, welche Bedeutung diesen Gruppen im breit gefächerten Spektrum oppositioneller Kräfte zukomme. Allerdings sei der Grad der Ausforschung oppositioneller Tätigkeiten um so höher, je größer der Umfang der oppositionellen Aktivitäten sei; der Verfolgungsdruck sei bei den Organisationen am größten, die aufgrund von Guerillatätigkeiten im Iran als terroristisch eingestuft würden. Dagegen sei die bloße, wenn auch regelmäßige Teilnahme an politischen Veranstaltungen ohne Wahrnehmung herausgehobener Funktionen für die iranischen staatlichen Stellen ohne Relevanz. Nach neueren Auskünften des Bundesamtes für Verfassungsschutz entscheiden iranische Stellen je nach Bedeutung der Person bzw. der Organisation, der politischen Lage im Lande und der außenpolitischen Situation, ob und ggf. wie gegen dort interessierende Personen vorgegangen wird (vgl. Auskünfte vom 09.09.2005, 22.03., 03.07. und 30.08.2006).

Auch nach den Einschätzungen des Deutschen Orient-Instituts (vgl. dessen Stellungnahmen vom 19.10., 16.11.2004, 05.10.,10.10.2005, 04. und 05.01.2006, 03.02.2006, 17.05.2006, 05. und 06.07.2006) reichen untergeordnete und vereinzelte Erscheinungsformen regimekritischen Verhaltens im Ausland für sich genommen regelmäßig nicht dazu aus, das gezielte Interesse iranischer Verfolger zu erwecken; vielmehr werde solches Verhalten im Iran im allgemeinen als zielgerichtet auf die Erlangung eines Aufenthaltsrechtes verstanden und akzeptiert. Auch wenn die Ausforschung exilpolitischer Aktivitäten durch den iranischen Geheimdienst als Faktum angenommen werde, sei bei der Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, weiche Opposition der Iran für bedrohlich halte. Schließlich hängt auch nach Einschätzung von amnesty international (vgl. Stellungnahmen vom 18.12.2000, 15.03.2001 und 03.02.2004) die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei exilpolitischer Betätigung davon ab, welche Auswirkungen auf die innere Stabilität des Iran den Aktivitäten von den iranischen Stellen beigemessen werden.

Die ins Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen sprechen weiterhin relativ übereinstimmend davon, dass exilpolitische Aktivitäten - jedenfalls außerhalb von Gruppierungen, die aktiv auf den Sturz des gegenwärtigen iranischen Systems hinarbeiten - nur dann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungsgefahr führen, wenn die einzelne Person nicht nur einfaches passives Mitglied ist, sondern sich in gewisser Weise exponiert (vgl. z.B. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 05.09.2000, 16.11.2000, 03.02.2004 und 27.07.2005; amnesty international vom 24.03.2004; Stellungnahmen des Deutschen Orient-Instituts vom 27.06.2001, 26.05.2003, 19.04.2004, 07.06.2005, 10.10.2005 und 03.02.2006; ebenfalls in diesem Sinne differenzierend Kompetenz-Zentrum Orient-Okzident Mainz vom 24.06.2004, 20.03.2006). Das Bundesamt für Verfassungsschutz erachtet in seinen Stellungnahmen vom 23.08.2000, 11.12.2000 und 28.01.2003 z.B. die Wahrnehmung von Führungs- oder Funktionsaufgaben in einer gegen das iranische Regime tätigen Exilorganisation (insbesondere als Vorstandsmitglied) und die Teilnahme an Veranstaltungen, die führenden Mitgliedern der Organisation vorbehalten sind, als Beispiele für exponierte oppositionelle Betätigung.

Erkenntnisse, die nachvollziehbar darlegen, dass Aktivitäten unterhalb dieses Profils mit einer ernsthaften Gefährdung bei Rückkehr in den Iran verbunden wären, liegen dem Gericht nicht vor. Soweit Auskünfte des Kompetenz-Zentrums Orient-Okzident Mainz (etwa vom 24.06.2004, 10. und 22.08.2005 sowie 03. und 24.11.2006 - betr. linke Gruppierungen - sowie vom 22.08.2005) auf etwas anderes hinzudeuten suchen scheinen, misst das Gericht dem keine Überzeugungskraft bei angesichts der geringen Substanz dieser Auskünfte, die ohne weitere Differenzierung und tatsächliche Absicherung der Einschätzung bleiben.

Die danach geltenden Voraussetzungen für die Prognose, dass für iranische Staatsangehörige mit exilpolitischen Aktivitäten gegen das iranische Regime eine Gefährdung verbunden ist, legen seit geraumer Zeit auch die für Verfahren iranischer Asylbewerber zuständigen Richter des Verwaltungsgerichts Hamburg ihrer ständigen Rechtsprechung zugrunde. Sie steht im Einklang mit der Rechtsprechung des OVG Hamburg (vgl. etwa Beschluss vom 20.12.2007, 1 Bf 364/07.AZ; Beschluss vom 04.01.2007, 1 Bf 5/07.AZ; Beschluss vom 26.09.2007, 1 Bf 298/07.AZ; Urteil vom 18.06.2004, 1 Bf 123/02.A oder Urteil vom 21.10.2005, 1 Bf 298/01.A) sowie der - soweit ersichtlich - einhelligen Rechtsprechung anderer Obergerichte (VGH Kassel, Urteil vom 23.11.2005, 11 UE 3311/04.A; OVG Bremen, Urteile vom 24.11.2004, 2 A 475 und 478/03.A, Urteil vom 09.01.2008, 2 A 176/06.A; OVG Schleswig, Urteil vom 23.05.2003, 3 LB 2/03; OVG Bautzen, Urteil vom 05.06.2002, A 2 B 117/01; OVG Münster, Beschluss vom 16.04.1999, 9 A 5338/98.A; OVG Lüneburg, Urteil vom 26.10.1999, 5 L 3180/99; VGH München, Beschluss vom 14.08.2003, 14 ZB 01.31205, Beschluss vom 22.11.2007, 14 ZB 07.30660).

bb) Gemessen hieran drohen dem Kläger wegen seiner vorgetragenen, gehörig nachgewiesenen und von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogenen Teilnahme an den Ankettungsaktionen vom ... vor dem iranischen Generalkonsulat und vom ... vor der Botschaft des Iran in ... mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren im Falle einer Rückkehr in den Iran. Er hat sich durch diese Teilnahme zur Überzeugung des Gerichts im dargelegten Sinne hervorgehoben exilpolitisch gegen das iranische Regime bestätigt.

Die Kammer hält an ihrer ständigen Rechtsprechung zu sog. Ankettungsaktionen iranischer Staatsangehöriger (z. B. Urteil v. 13.12.2005 - 10 A 643/03 -; Urteil v. 16.01.2007 - 10 A 97/05 -; Urteil v. 14.03.2007 - 10 A 1425/04 -; Urteil v. 24.04.2008 - 10 A 482/07 -; Urteil v. 22.07.2008 - 10 A 662/06 -) fest. Im Urteil vom 13.12.2005 heißt es in Bezug auf den dortigen Kläger: [...]