VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 08.10.2008 - 12 A 8977/05 - asyl.net: M14692
https://www.asyl.net/rsdb/M14692
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychischer Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Retraumatisierung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Ihm würden im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für Leib und Leben drohen. [...]

Nach Auswertung der von dem Kläger vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen, insbesondere des fachpsychologischen Gutachtens des Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten ... vom 20.07.2008 steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aufgrund seiner Erlebnisse in Tschetschenien u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Herr ... hat nachvollziehbar erläutert, aufgrund eingehender mehrstündiger Exploration und zahlreicher Tests, die er im Einzelnen detailliert erklärt hat, zu der Diagnose gekommen zu sein, dass der Kläger u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. [...]

Herr ... hat auch eine nachvollziehbare Erklärung dafür abgegeben, dass sich der Kläger erst Jahre nach Auftreten der Erkrankung in Behandlung begeben hat. Er führt hierzu aus, dass Auslöser der Störung die vom Kläger erlebten Situationen im Heimatdorf, u.a. Raketenangriffe, Kriegsszenarien, unmittelbare Lebensbedrohung, waren, das Auftreten psychischer und körperlicher Symptome aber über Jahre unterdrückt werden kann, um das Überleben funktional zu bewerkstelligen. Von einem späten Ausbruch der Krankheit könne nicht gesprochen werden, vielmehr davon, dass die vorhandene Störung lange Zeit unterdrückt worden sei. Der Kläger habe sich nach Jahren subsyndromaler Symptome beim Arzt gemeldet. Das Gefühl, sich in Deutschland in Sicherheit zu befinden, habe erst spät die vorliegende Störung und dessen Symptome zu Tage geführt. Soweit die Beklagte einwendet, der Kläger betreibe seit 2002 sein Asylanerkennungsverfahren, habe aber bis zum Jahr 2006 nicht einen einzigen krankheitsbezogenen Vortrag in das Klageverfahren eingebracht, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 12.12.2002 angegeben hat, dass seine Frau mit den Nerven am Ende sei, auch er selbst Angst vor Hubschraubern habe und nur seine Kinder gesund seien. [...]

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch die Gefahr einer Retraumatisierung und einer daraus folgenden Suizidalität zu erwarten. Eine derartige Gefahr ist nicht durch eine in der Russischen Föderation mögliche Behandlungsmöglichkeit auszuräumen.

Herr ... ist zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger im Falle einer Rückführung in die Russische Föderation eine Retraumatisierung, also eine erneute bzw. Fortführung der Traumatisierung, verbunden mit einer akuten Suizidalität zu prognostizieren sei. Der Gesundheitszustand des Klägers werde sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verschlechtern, selbst wenn es ihm im Heimatland möglich sein sollte, psychologische oder medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. An dieser Einschätzung hat das Gericht keine Zweifel. [...]

Unter diesen Umständen hält das Gericht auch die Einschätzung des Gutachters für plausibel, dass eine erfolgversprechende Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung nur außerhalb der Russischen Föderation in einer beruhigten und auf Sicherheit gründenden Lebenssituation mit geklärtem Aufenthaltsstatus möglich ist. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass in der Russischen Föderation grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten vorhanden sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13.01.2008). [...]