VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 08.09.2008 - 3 K 753/07.NW - asyl.net: M14697
https://www.asyl.net/rsdb/M14697
Leitsatz:

Es ist Homosexuellen nicht zumutbar, auf sexuelle Betätigung zu verzichten, um Verfolgungsmaßnahmen zu vermeiden; Flüchtlingsanerkennung einer lesbischen Frau aus dem Iran. Zwar findet keine systematische Verfolgung von Homosexuellen im Iran statt, bei homosexueller Betätigung besteht aber eine beachtliche Gefahr der Entdeckung und Verfolgung.

Schlagwörter: Iran, Homosexuelle, Glaubwürdigkeit, Gutachten, Strafrecht, Hadd-Strafe, Auspeitschung, Vorladung, Revolutionsgericht, Zumutbarkeit, soziale Gruppe, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d
Auszüge:

Es ist Homosexuellen nicht zumutbar, auf sexuelle Betätigung zu verzichten, um Verfolgungsmaßnahmen zu vermeiden; Flüchtlingsanerkennung einer Lesbe aus dem Iran; zwar findet keine systematische Verfolgung von Homosexuellen im Iran statt, bei homosexueller Betätigung besteht aber eine beachtliche Gefahr der Entdeckung und Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person in Bezug auf den Iran die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - vorliegen. [...]

Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass sie zu einer Gruppe gehört, deren Mitglieder Merkmale teilen, die so bedeutsam für die Identität sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, und dass die Gruppe im Iran eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Art. 10 Abs. 1 d S. 1 Qualifikationsrichtlinie). Ihre Ausrichtung beschränkt sich nicht zum Beispiel auf Handlungen, die nach nationalem Recht von Mitgliedstaaten der Europäischen Union als strafbar gelten (Art. 10 Abs. 1 d S. 3 Qualifikationsrichtlinie), sondern ist schicksalhafter Bestandteil ihrer Gesamtpersönlichkeit. Dies steht aufgrund des eingeholten sexualwissenschaftlich-psychologischen Gutachtens, dessen wissenschaftliche Grundlagen in der ergänzenden Stellungnahme vertieft dargelegt wurden, zur Überzeugung des Gerichts fest. [...]

Die Richtigkeit des Ergebnisses der Begutachtung wird seitens der Beklagten nach wie vor in Zweifel gezogen, weil die Unstimmigkeiten im Sachvortrag der Klägerin zur Aufdeckung der Homosexualität ihrer Freundin und deren Verfolgungsschicksal nicht ausgeräumt seien. Die Gutachterin hat zu Recht darauf hingewiesen, es sei nicht ihre Aufgabe die Fluchtgeschichte, sondern die Sexualgeschichte der Klägerin zu überprüfen und festzustellen, ob sie die Schlussfolgerung auf eine homosexuelle Struktur der Klägerin zulasse. Die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens wird durch das Vorbringen der Klägerin zu den Ereignissen im Iran (Festnahme und Verurteilung der Freundin) aber nicht in Frage gestellt, da insoweit ihre in sich widerspruchsfreien Angaben zu ihrer Sexualität maßgebend sind.

Allerdings ist der Beklagten insoweit zuzugeben, dass das klägerische Vorbringen zu dem Flucht auslösenden Ereignis im Iran in sich nicht schlüssig ist. [...]

Diese Bedenken gegen die Richtigkeit der klägerischen Schilderungen zu dem die Ausreise auslösenden Ereignis rechtfertigen nicht den Schluss, die Klägerin sei nicht homosexuell. Ihr kann nicht vorgehalten werden, dieses Vorbringen diene allein dazu, ihr ein Bleiberecht in Deutschland zu verschaffen. Dieses hätte sie nämlich auch durch die bereits von ihrer Familie in die Wege geleitete Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen erhalten können. Zu der Eheschließung kam es indessen nicht, weil die Klägerin es vorzog, dem in Aussicht genommenen Ehemann die Wahrheit über ihre sexuelle Veranlagung zu gestehen.

Eine Rückkehr in den Iran ist der Klägerin wegen ihrer Homosexualität, auch wenn diese den dortigen Behörden noch nicht bekannt ist, aber nicht zumutbar. Die heutige Rechtslage und Rechtspraxis seit Amtsantritt des Staatspräsidenten Ahmadinejad unterscheidet sich hinsichtlich der Verfolgung Homosexueller nämlich nicht wesentlich von derjenigen, die der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278/86 - BVerwGE 79, 143) zugrunde lag.

Im Iran ist die Durchführung homosexueller Handlungen, nicht aber bereits die Neigung zur Homosexualität selbst, unter Strafe gestellt (Art. 108 bis 134 des iranisches Strafgesetzbuches - (StGB). Als Regelstrafe für Sexualvergehen zwischen Frauen sind in Art. 129 IStGB hundert Peitschenhiebe vorgesehen. Wurde die lesbische Liebe dreimal wiederholt und ist jedes Mal eine hadd-Strafe verhängt worden, so ist die hadd-Strafe beim vierten Mal die Todesstrafe (Art. 131 IStGB). Nach Art. 134 IStGB wird mit einer ta’zir-Strafe von unter hundert Peitschenhieben bestraft, wenn zwei Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, ohne Notwendigkeit nackt unter einer Decke liegen.

Aussagen darüber, in welchem Umfang und mit welcher Intensität strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen im Iran wegen Homosexualität betrieben werden, sind wegen der mangelnden Transparenz des iranischen Gerichtswesens nicht möglich. Dies beruht darauf, dass die detaillierten Erfordernisse der genau vorgeschriebenen Beweisverfahren nur in seltenen Fällen eingesetzt und auch im Rahmen von Auseinandersetzungen zwischen Privatleuten als Druckmittel benutzt werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. März 2006, S. 22).

Nach den strengen Beweisregeln des iranischen Strafgesetzbuchs gelten homosexuelle Handlungen als bewiesen, wenn entweder ein viermaliges Geständnis vor dem Richter abgelegt wird (Art. 114 IStGB) oder Zeugenaussagen von vier unbescholtenen Männern vorliegen (Art. 117 IStGB). Der Beweis kann auch durch Heranziehen des "eigenen Wissens des Richters", das nach traditionellem islamischem Rechtsverständnis kein Beweismittel ist, geführt werden (Art. 119 IStGB).

Hinsichtlich der Rechtspraxis lassen sich folgende Feststellungen treffen: Nach Berichten in der iranischen Presse sind zuletzt am 19. Juli 2005 zwei junge Männer wegen homosexueller Handlungen öffentlich gehängt worden. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes wurden die beiden aufgrund einer Vergewaltigung, deren Begehung sie gestanden hätten, hingerichtet. Bereits in einer Stellungnahme vom Januar 2002 schätzt der UNHCR die Verhängung der Todesstrafe wegen Homosexualität nach wie vor als nicht nur theoretische Gefahr für Homosexuelle im Iran ein (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. März 2006, S. 22). In seinem Lagebericht vom 18. März 2008 (Stand: Februar 2008) führt das Auswärtige Amt auf S. 24 aus, wegen der mangelnden Transparenz des iranischen Gerichtswesens sei keine eindeutige Aussage darüber möglich, in welchem Umfang und mit welcher Intensität strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen wegen Homosexualität tatsächlich betrieben würden. Bevor es zu gerichtlichen Verfahren komme, werde allerdings häufig der Vorwurf der Homosexualität zusätzlich zu anderen Delikten erhoben, um die Verhafteten moralisch zu diskreditieren.

Derartige Fälle werden auch vom Deutschen Orient-Institut bestätigt. [...]

Dies entspricht auch den Ausführungen in der Antwort der Bundesregierung vom 10. September 2007 auf die Kleine Anfrage mehrerer Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 16/6271: [...]

Die Recherche des Deutschen Orient Instituts hat ergeben, dass es keine Hinweise auf ein aggressives Verhalten der iranischen Behörden gegen Homosexuelle gibt. Im Verborgenen sei ein Praktizieren der homosexuellen Veranlagung möglich. In Teheran existierten sogar Treffpunkte von Homosexuellen in öffentlichen Parks, die in den allgemein zugänglichen Quellen nicht genau bezeichnet würden, von denen aber auch heterosexuelle Iraner wüssten. Homosexualität sei im Iran weit verbreitet, zum Teil deshalb, weil es schwierig und ohne Heirat für die meisten Leute überhaupt nicht möglich sei, ihre geschlechtlichen Bedürfnisse auf normale Weise zu befriedigen.

Ähnlich wird die Situation Homosexueller schon in dem "Bericht über eine Erkundungsreise in die Islamische Republik Iran" des Unabhängigen Bundesasylsenats der Republik Österreich von Mai/Juni 2002 geschildert. Eine Mitarbeiterin der norwegischen Botschaft berichtete in diesem Zusammenhang, Homosexuelle könnten relativ unbehelligt leben, solange sie ihre Veranlagung nicht öffentlich bekannt gäben. Das belgische Asylamt geht davon aus, dass Homosexuelle nichts zu befürchten hätten, solange die Homosexualität auf privater Basis praktiziert werde. Auch sei es im Iran - anders als bei Männern und Frauen - im gesellschaftlichen Sinne kein Problem, dass sich zwei Männer gemeinsam ein Hotelzimmer nähmen. [...]

Allerdings sollen am ... 2007 nach übereinstimmenden Presseberichten über 80 homosexuelle Männer in verhaftet worden sein. Bei dieser Aktion soll es sich nach der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch um Teil einer von der iranischen Regierung so genannten Kampagne zur Wahrung der öffentlichen Ordnung gehandelt haben (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. März 2008, S. 24).

Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass im Rahmen der ausgeweiteten Moralkampagnen die offiziellen Stellen insbesondere auch gegen die aus ihrer Sicht westliche Infiltration der Jugend vorgehen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. März 2008, S. 6) und der iranische Präsident in einer Rede an der New Yorker Columbia-Universität im September 2007 gesagt hat, es gebe im Iran keine Homosexuellen wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, dieses Phänomen gebe es im Iran nicht.

Bereits nach der Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts vom 4. Oktober 2000 ist die Wahrscheinlichkeit der Verfolgung einer homosexuellen Beziehung unter Frauen im Iran bei Bekanntwerden sehr hoch, weil derartiges ein absoluter Tabubruch ist, schlimmer noch als unter Männern, und für jeden ein "gefundenes Fressen", der eine solche Frau richtig fertig machen will.

Aus der Gesamtschau dieser Fakten folgert das Gericht, dass eine systematische Verfolgung von Homosexuellen zurzeit im Iran nicht stattfindet und die Verfolgung homosexueller Betätigung im Iran jedenfalls solange nicht beachtlich wahrscheinlich ist, solange das Sexualleben im Privaten und Verborgenen gelebt wird und der Betreffende nicht bereits die Aufmerksamkeit der iranischen Strafverfolgungsbehörden mit der Folge auf sich gezogen hat, dass er im Falle der Rückkehr einem gesteigerten Beobachtungs- und Verfolgungsinteresse seitens der iranischen Behörden ausgesetzt wäre (vgl. auch SächsOVG, Urteile vom 20. Oktober 2004 - 2 B 273/04 - und vom 5. Februar 2004 - 2 B 145/03 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 5. September 2005 - 5 K 6084/04.A -; VG Trier, Urteil vom 13. Juli 2006 - 6 K 51/06 TR -; VG München, Urteil vom 24. Januar 2003 - M 9 K 02.51608 -). [...]

Gleichwohl hat die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran wegen ihrer ihre Identität prägenden Homosexualität im Falle der Entdeckung dieser Veranlagung eine menschenrechtswidrige Bestrafung durch Auspeitschen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Dies gilt, obwohl ihre Ausführungen zur Entdeckung und Verurteilung der Freundin für nicht glaubhaft erachtet wurden und ihr daher nicht der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab einer Vorverfolgten zugute kommen kann. [...]

Die Homosexualität ist ein die Persönlichkeit der Klägerin prägendes Merkmal. Nach den Feststellungen in dem eingeholten Gutachten liegt bei ihr eine irreversible Homosexualität sowohl in Bezug auf ihre sexuelle Struktur als auch im Hinblick auf ihre sexuelle Praxis und ihre sexuelle Identität (S. 13/14 des Gutachtens) vor. Einer Entdeckung ihrer homosexuellen Veranlagung könnte sie damit nur entgehen, wenn sie auf Dauer sexuell enthaltsam leben würde. Die Alternative wäre ein Leben unter der ständigen Furcht vor Entdeckung.

Homosexuelles Verhalten ist aber eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit und gehört daher zu der durch die völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen (vgl Art. 8 EMRK) geschützten Privatsphäre. Da die sexuelle Identität einen wesentlichen Bestandteil der Persönlichkeit eines jeden Menschen darstellt, wäre der Zwang, diesen Persönlichkeitsteil zu unterdrücken, ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Es kann von einem Betroffenen daher nicht verlangt werden, generell auf sexuelle Betätigung zu verzichten, nur weil sein homosexuelles Verhalten nicht demjenigen der Mehrheit entspricht. Dies würde aber der Klägerin angesonnen, wenn sie in den Iran zurückkehren müsste.

In diesem Zusammenhang ist auf die bereits angesprochenen ausgeweiteten alljährlichen Moralkampagnen der offiziellen Stellen insbesondere auch gegen die aus ihrer Sicht westliche Infiltration der Jugend zurückzukommen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. März 2008, S. 6). So wurden am ... 2008 von der Polizei in ... 75 Jugendliche festgenommen, denen vorgeworfen wurde, eine unmoralische Geburtstagsfeier veranstaltet zu haben. Ein Polizeibeamter teilte hierzu mit, die Jugendlichen hätten getanzt, Alkohol getrunken und verbotene westliche Musik gehört. Im Mai 2007 hatte die Kampagne eine nach dem Auswärtigen Amt bisher nicht gekannte Dimension erreicht, als über 1 000 Personen unter Vorwürfen des "ungehörigen Verhaltens" und der "Bekämpfung von Gesindel" vorübergehend festgenommen wurden. Das Auswärtige Amt hat daher zu Recht in seinem Lagebericht vom 18. März 2008 (S. 5) festgestellt, dass die zivilgesellschaftlichen Spielräume weiter eingeengt worden seien. Die Restriktionen würden in ihrem Ausmaß das Niveau der vergangenen Jahre überschreiten. Die alljährliche im Frühjahr stattfindende "Kampagne zur Wahrung der öffentlichen Sittlichkeit" sei sowohl zeitlich als auch nach ihrem Umfang ausgedehnt worden (S. 6). Vor diesem Hintergrund ist auch die Äußerung des iranischen Präsidenten in seiner Rede an der New Yorker Columbia-Universität im September 2007 zu sehen, es gebe im Iran keine Homosexuellen wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, dieses Phänomen gebe es im Iran nicht.

Diese iranischen Verhältnisse und der Umstand, dass der Klägerin ein auf Dauer angelegtes Unterdrücken ihrer sexuellen Veranlagung nicht zugemutet werden kann, sind in die Bewertung der Verfolgungsprognose einzustellen. Denn bei dieser Prognose ist auch ein die Verfolgung erst auslösendes zukünftiges eigenes Verhalten des Asylsuchenden in seinem Heimatstaat zu berücksichtigen, wenn es mehr oder weniger zwangsläufig zu erwarten ist und damit die Gefährdung des Asylsuchenden in so greifbare Nähe gerückt ist, dass sie wie eine unmittelbar drohende Gefahr als asylrechtlich beachtlich eingestuft werden muss. Dies ist aber nach den obigen Darlegungen hier der Fall, zumal die Anzeige einer Privatperson ausreichen kann, um Ermittlungen einzuleiten. [...]