VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 31.10.2008 - A 3 K 2649/08 - asyl.net: M14699
https://www.asyl.net/rsdb/M14699
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Entführung, Lösegeld, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungsbegriff, Vorverfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Beurteilungszeitpunkt, Existenzminimum, Terrorismusbekämpfung, Verfolgungsdichte, Sicherheitslage, Maschadow, Situation bei Rückkehr, Rückübernahmeabkommen, Wehrpflicht, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, Versorgungslage, Wohnraum, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet.[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. [...]

Der Kläger ist im Zeitpunkt seiner Ausreise nicht individuell verfolgt worden. Nach seinem Vorbringen hat er seine Heimat deshalb verlassen, weil er im Jahr 2002 zweimal von Unbekannten festgenommen, misshandelt und erst nach Lösegeldzahlungen seiner Eltern freigelassen wurde (der erstmals mit Schriftsatz vom 22.10.2008 erwähnte Vorfall vom August 2001 ist demnach nicht kausal für die Ausreise gewesen). Es kann offen bleiben, ob die sehr vagen und detailarmen Schilderungen des Klägers (vgl. hierzu auch die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid), die zudem erhebliche Widersprüche hinsichtlich der Tätigkeit und des Aufenthaltsorts des Klägers ab 1994 sowie der Zeitdauer der angeblichen Entführungen im Februar und August 2002 aufweisen, überhaupt der Wahrheit entsprechen. Denn selbst wenn man dies unterstellt, ist eine individuelle Verfolgung zu verneinen. Welcher Seite die Täter zuzurechnen waren, konnte der Kläger nicht sagen. Er erklärte vielmehr ausdrücklich, er sei im Februar 2002 von Unbekannten festgehalten worden und beim Vorfall im August 2002 seien die Täter maskiert gewesen, so dass er nicht sagen könne, was das für Leute gewesen seien. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er aus individuellen politischen Gründen ins Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte geraten ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er Opfer des zum damaligen Zeitpunkt in Tschetschenien bei bewaffneten Einheiten aller Konfliktparteien und bei kriminellen Banden weit verbreiteten "Entführungsgewerbes" (vgl. Memorial, Lagebericht August 2006 - Oktober 2007; AA-Lagebericht vom 13.01.2008) geworden ist (inzwischen hat sich die Sicherheitslage erheblich verbessert: vgl. die unten dargestellten Feststellungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs <Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, Juris> sowie Memorial, a.a.O.). Hierauf lässt auch schließen, dass er jeweils nach Lösegeldzahlungen wieder freikam. [...]

Das Gericht unterstellt aber zu Gunsten des Klägers, dass er vor der Ausreise aus Tschetschenien dort von einer regionalen Gruppenverfolgung betroffen war. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen Stellen bzw. mit ihnen verbündeten tschetschenischen Kräften verfolgt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420) - braucht demgemäß nicht entschieden zu werden. [...]

Denn auch wenn man eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG nach Maßgabe der Auslegungskriterien nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG verneint, ist dem Kläger die Rückkehr in seine Heimatregion Tschetschenien zumutbar, da die Wiederholung einer gruppengerichteten Verfolgung bzw. die Gefahr einer Individualverfolgung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist.

Insoweit schließt sich das Gericht der überzeugend begründeten Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07A Juris) und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 3108.2007 - 11 B 02.31724 -, Juris) an, dass tschetschenischen Volkszugehörigen, die - wie der Kläger - nicht unter dem Verdacht einer früheren Mitwirkung bzw. Einbindung bei den Rebellentruppen ins Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte geraten sind, eine Rückkehr nach Tschetschenien zumutbar ist. Wegen der seit 2006 maßgeblich veränderten Sicherheitslage in Tschetschenien sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass sie dort von Verfolgung oder Schäden bedroht sind, und sie müssen auch keine sonstigen Gefahren i. S. des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, Art. 15 QRL befürchten.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Urteil vom 21.02.2008 unter Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel (das erkennende Gericht hat die Urteile des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie die dort in Bezug genommenen Erkenntnisquellen ausdrücklich in das vorliegende Verfahren eingeführt) u.a. ausgeführt: [...]

Dieser Beurteilung schließt sich das erkennende Gericht auch für den Fall des Klägers an. Wie ausgeführt, hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass er befürchten müsste, von den russischen Sicherheitskräften bei einer Rückkehr wegen vermuteter Aktivitäten auf Seiten tschetschenischer Rebellen einer besonderen Kontrolle unterzogen zu werden. Der Kläger gehört deshalb zu den tschetschenischen Asylbewerbern, denen nunmehr eine Rückkehr nach Tschetschenien zuzumuten ist.

Bei ihm und seiner Familie (Ehefrau und die beiden am 2004 bzw. 2006 geborenen Kinder) liegen auch keine Besonderheiten vor, die sie unter der mangelhaften Versorgungssituation in Tschetschenien besonders leiden ließen und die Befürchtung rechtfertigen könnten, ihnen sei dort eine menschenwürdige Existenz nicht möglich. [...]