VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 24.10.2008 - A 11 K 766/08 - asyl.net: M14719
https://www.asyl.net/rsdb/M14719
Leitsatz:

1. Hat das Bundesamt eine sachliche Prüfung des geltend gemachten Abschiebungsverbots vorgenommen und Feststellungen zur Sache im (ablehnenden) Bescheid getroffen, so hat es damit den Weg zu einer Sachprüfung im gerichtlichen Verfahren freigemacht.

2. Liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor, so ist das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots auf Null reduziert. Die gegenteilige Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 17.10.2006, BVerwGE 127, 33) übersieht, dass es sich bei § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG um eine Sollvorschrift handelt.

3. Die gutachterlich festgestellte Gefahr der Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in das Heimatland ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern. Antidepressiva und Neuroleptika können die emotionale Wucht der intensiven Phänomene (flashbacks) zwar abschwächen, gegen die Phänomene als solche sind sie aber wirkungslos.

4. Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrunde liegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen.

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Untätigkeitsklage, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Rechtskraft, Bindungswirkung, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, fachärztliche Stellungnahme, Sachverständigengutachten, Glaubwürdigkeit, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Suizidgefahr, allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 75; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

1. Hat das Bundesamt eine sachliche Prüfung des geltend gemachten Abschiebungsverbots vorgenommen und Feststellungen zur Sache im (ablehnenden) Bescheid getroffen, so hat es damit den Weg zu einer Sachprüfung im gerichtlichen Verfahren freigemacht.

2. Liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor, so ist das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots auf Null reduziert. Die gegenteilige Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 17.10.2006, BVerwGE 127, 33) übersieht, dass es sich bei § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG um eine Sollvorschrift handelt.

3. Die gutachterlich festgestellte Gefahr der Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in das Heimatland ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern. Antidepressiva und Neuroleptika können die emotionale Wucht der intensiven Phänomene (flashbacks) zwar abschwächen, gegen die Phänomene als solche sind sie aber wirkungslos.

4. Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrunde liegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die Klage ist als Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO zulässig. Die Beklagte hat über den Antrag des Klägers vom 24.08.2007 in angemessener Frist sachlich nicht entschieden. Der nach Zulässigkeit der Klage gemäß § 75 Satz 1 VwGO ergangene Bescheid vom 28.02.2008 war in den Rechtsstreit einzubeziehen; da der Streitgegenstand der Untätigkeitsklage und der Regelungsgegenstand des Bescheids vom 28.02.2008 deckungsgleich sind, liegt auch keine Klageänderung vor.

Die Klage ist auch begründet. [...]

Bei dem Antrag des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich der Sache nach um einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG, weil das Bundesamt bereits im ersten Asylverfahren des Klägers mit rechtskräftig gewordenem Bescheid vom 15.11.2005 festgestellt hatte, dass bei ihm Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Ob die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hier erfüllt sind, kann dahingestellt bleiben. Denn das Bundesamt hat eine sachliche Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorgenommen, Feststellungen zur Sache im Bescheid vom 28.02.2008 getroffen und damit den Weg zu einer Sachprüfung auch im gerichtlichen Verfahren freigemacht (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.03.2000, BVerwGE 101, 77).

Selbst wenn das Bundesamt den Weg zu einer Sachprüfung im gerichtlichen Verfahren nicht freigemacht hätte, hätte der Kläger einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urt. v. 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urt. v. 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Erstasylverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urt. v. 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urt. v. 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urt. v. 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).

Beim Kläger liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 20.10.2004 (BVerwGE 122, 103) entschieden, dass das behördliche Ermessen nicht schon dann zu Gunsten des Ausländers auf Null reduziert ist, wenn festgestellt wird, dass in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen. Diese Auffassung ist jedoch im Hinblick auf die vom Bundesverwaltungsgericht zur Begründung hierzu herangezogene gesetzliche Konzeption des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, der die Abschiebung auch bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in das Ermessen der Behörde gestellt hat, überholt. Denn nach der jetzt geltenden Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der Behörde ein Ermessen nicht mehr eröffnet. Vielmehr soll nunmehr unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einer Abschiebung abgesehen werden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17.10.2006 (BVerwGE 127, 33) unter Bezugnahme auf das Urteil vom 20.10.2004 (a.a.O.) die Auffassung vertritt, dass bei Bejahung einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG das Bundesamt nur zu einer Ermessensentscheidung über den Antrag des Ausländers zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verpflichtet werden könne, wird offensichtlich verkannt, dass sich die Gesetzeslage (Sollvorschrift!) geändert hat. Selbst wenn aber eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004 a.a.O.), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich der Kläger krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde. [...]

Der Kläger leidet nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme an einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) mit überwiegender depressiver Symptomatik und sekundärer Persönlichkeitsveränderung (ICD-10: F 33.1 und F 62.0).

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.).

Zu den gestellten Diagnosen kommt der Sachverständige Dr. XXX in seinem Gutachten vom 13.08.2008 aufgrund der Eigenanamnese des Klägers und der von ihm durchgeführten Exploration. [...]

An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem eingeholten Sachverständigengutachten vom 13.08.2008 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Der Gutachter hat andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus dem Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage der Sachverständige seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Das Gutachten gibt auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345; Beschl. v. 23.07.2007 - 10 B 85/07 - juris - und Urt. v. 11.09.2007, BVerwGE 129, 251).

Da aber weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der im Gutachten ausführlich dargelegten Anamnese ist das Gericht der Überzeugung, dass am 10.07.1993 Dorfschützer zu dem Haus der Familie des Klägers gekommen sind und den Bruder des Klägers, als dieser die Tür aufgemacht hat, erschossen haben. Als die Schwester des Klägers sich über den erschossenen Bruder geworfen hat, wurde auch diese erschossen. Der Kläger hat dies unmittelbar miterlebt. Dieses traumatisierende Ereignis hat entgegen der vom Bundesamt geäußerten Zweifel zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden. Der Kläger hat von diesem Ereignis bereits im Erstasylverfahren berichtet. Im Urteil der 6. Kammer vom 31.01.2007 wurde ausdrücklich festgestellt, dass der Kläger Widersprüche im Zusammenhang mit der Ermordung der Schwester und des Bruders ausräumen konnte. Lediglich die Angaben des Klägers zu dessen eigenem Verfolgungsschicksal nach dem Tod des Vaters wurden als vage und widersprüchlich gewertet, so dass nach Auffassung der 6. Kammer der Kläger ein eigenes Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht hat. Diese Beurteilung des individuellen Verfolgungsschicksals des Klägers durch die 6. Kammer ist - auch wenn es im vorliegenden Verfahren hierauf nicht ankommt - in Zweifel zu ziehen, da die Einzelrichterin der 6. Kammer unberücksichtigt ließ, dass bei traumatisierten Personen die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden können und deshalb bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand anzunehmen ist, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 30.04.2008 - 1 A 10433/07.OVG -; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455; VG Stuttgart, Urt. v. 14.01.2008, InfAuslR 2008, 323 m.w.N.). Unverständlicher Weise hat die Einzelrichterin der 6. Kammer das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 31.01.2007, er sei psychisch krank und wisse nicht mehr alles so genau, völlig ignoriert. [...]

Gegen die Richtigkeit der in dem Sachverständigengutachten vom 13.08.2008 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der vom Kläger geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.).

Nach dem eingeholten Gutachten vom 13.08.2008 ist bei einer Rückkehr des Klägers in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit einer lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge würde sich diese lebensbedrohliche Verschlechterung darin äußern, dass die psychischen Funktionen (emotionale, soziale und vermutlich auch kognitive Funktionen) des Klägers so weit beeinträchtigt würden, dass er zu einer normalen Lebensführung nicht mehr im Stande wäre. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar und schließen sich überzeugend an die erhobenen Befunde an. Bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen handelt es sich wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).

Unter dem Begriff der "Retraumatisierung" wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris = NVwZ-RR 2008, 280).

Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - und Urt. v. 30.04.2008 - 1 A 10433/07.OVG; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris =NVwZ-RR 2008, 280 und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - a.a.O.), so dass im Falle des Klägers die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.

Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Antidepressiva und Neuroleptika können die emotionale Wucht der intrusiven Phänomene (flashbacks) zwar abschwächen, gegen die Phänomene als solche sind sie aber wirkungslos (vgl. Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psycho-Traumatologie, 2. Auflage, S. 225). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für den Kläger kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass er sich unverzüglich nach der Rückkehr in sein Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753; Gutachten Dr. Soeder vom 13.08.2008, Seite 11). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 30.04.2008 - 1 A 10433/07.OVG; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - a.a.O.). Diese fachwissenschaftlichen Erkenntnisse werden vom Bundesamt geflissentlich seit Jahren übergangen. Nichts anderes folgt aus dem vom Bundesamt vorgelegten Urteil des VG Freiburg vom 10.04.2008 - A 6 K 11260/05 -. Auch dem dortigen Berichterstatter scheinen die oben dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse völlig fremd zu sein.

Unabhängig hiervon wird der Kläger vor dem Hintergrund der bei ihm bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an seine Abschiebung und die damit für ihn zwangsläufig verbundene Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes die für ihn alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob der Kläger eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die psychischen Funktionen des Klägers bei einer Rückkehr in die Türkei soweit beeinträchtigt wären, dass er zu einer normalen Lebensführung nicht mehr im Stande wäre (vgl. Gutachten Dr. XXX vom 13.08.2008, Seite 11), so dass er nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für den Kläger besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.

Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand des Klägers im Falle einer Abschiebung in sein Herkunftsland alsbald nach seiner Rückkehr wesentlich bzw. sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihm ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff AufenthG Nr. 18). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004 - 14 A 548/04.A - juris = Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - und Urt. v. 22.11.2007 - 1 A 11605/06 - juris -; VGH Kassel, Beschl. v. 28.11.2005 - 7 UZ 153/05.A - juris - und Beschl. v. 09.01.2006 - 7 UZ 1831/05.A -). [...]