VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 03.11.2008 - A 11 K 6398/07 - asyl.net: M14721
https://www.asyl.net/rsdb/M14721
Leitsatz:

1. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Ausländers ist das Bundesamt und das Gericht zur Prüfung eines Abschiebungsverbots jedenfalls hinsichtlich des Herkunftsstaats des Ausländers verpflichtet.

2. Von staatlichen Stellen, zwischenstaatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen erhalten Personen, die aus Westeuropa in das Kosovo abgeschoben werden, keine Unterstützung.

3. Eine alleinstehende, ohne verwandtschaftliche Hilfe in das Kosovo zurückkehrende Frau hat keine Chance, sich das zum Überleben notwendige Existenzminimum zu erwirtschaften.

4. Für eine Frau ohne familiären Rückhalt besteht im Kosovo die Gefahr, Opfer von Zwangsprostitution zu werden.

 

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Rechtskraft, Bindungswirkung, Unabhängigkeit, Staatsangehörigkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, alleinerziehende Frauen, Versorgungslage, Existenzminimum, Familienangehörige, Zwangsprostitution, Roma, Ashkali, Ägypter
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

1. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Ausländers ist das Bundesamt und das Gericht zur Prüfung eines Abschiebungsverbots jedenfalls hinsichtlich des Herkunftsstaats des Ausländers verpflichtet.

2. Von staatlichen Stellen, zwischenstaatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen erhalten Personen, die aus Westeuropa in das Kosovo abgeschoben werden, keine Unterstützung.

3. Eine alleinstehende, ohne verwandtschaftliche Hilfe in das Kosovo zurückkehrende Frau hat keine Chance, sich das zum Überleben notwendige Existenzminimum zu erwirtschaften.

4. Für eine Frau ohne familiären Rückhalt besteht im Kosovo die Gefahr, Opfer von Zwangsprostitution zu werden.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. [...]

Bei den Anträgen der Kläger auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG handelt es sich der Sache nach um einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG, weil das Bundesamt bereits in den Asylerstverfahren der Kläger festgestellt hatte, dass bei den Klägern Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Ob die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hier erfüllt sind, kann dahingestellt bleiben. Denn das Bundesamt hat eine sachliche Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorgenommen, Feststellungen zur Sache im Bescheid vom 13.12.2007 getroffen und damit den Weg zu einer Sachprüfung auch im gerichtlichen Verfahren frei gemacht (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.03.2000, BVerwGE 101, 77).

Selbst wenn das Bundesamt den Weg zu einer Sachprüfung im gerichtlichen Verfahren nicht freigemacht hätte, hätten die Kläger einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urt. v. 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urt. v. 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidungen über die negativen Feststellungen des Bundesamts in den Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urt. v. 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urt. v. 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urt. v. 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).

Bei den Klägern liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 20.10.2004 (BVerwGE 122, 103) entschieden, dass das behördliche Ermessen nicht schon dann zu Gunsten des Ausländers auf Null reduziert ist, wenn festgestellt wird, dass in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen. Diese Auffassung ist jedoch im Hinblick auf die vom Bundesverwaltungsgericht zur Begründung hierzu herangezogene gesetzliche Konzeption des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, der die Abschiebung auch bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in das Ermessen der Behörde gestellt hat, überholt. Denn nach der jetzt geltenden Regelung des § 60 Abs 7 Satz 1 AufenthG ist der Behörde ein Ermessen nicht mehr eröffnet. Vielmehr soll nunmehr unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einer Abschiebung abgesehen werden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17.10.2006 (BVerwGE 127, 33) unter Bezugnahme auf das Urteil vom 20.10.2004 (a.a.O.) die Auffassung vertritt, dass bei Bejahung einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG das Bundesamt nur zu einer Ermessensentscheidung über den Antrag des Ausländers zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verpflichtet werden könne, wird offensichtlich übersehen, dass sich die Gesetzeslage (Sollvorschrift!) geändert hat. [...]

Da die Kläger aus dem Kosovo stammen, ist zu prüfen, ob dort die beschriebene Gefahr besteht. Dies galt schon bislang, da auf der Grundlage des deutsch-jugoslawischen Rückübernahmeübereinkommens vom 16.09.2002 keine Minderheitenangehörige aus dem Kosovo in das restliche Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden durften. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo vom 17.02.2008 und der Anerkennung der Republik Kosovo durch die Bundesrepublik Deutschland am 20.02.2008 gilt dies erst recht. Ob die Kläger die kosovarische Staatsangehörigkeit erlangt haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.09.2008 - 13 S 1812/07 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 26.11.2007 - 11 K 3108/06 - juris -), kann dahingestellt bleiben. Unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit haben Ausländer Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich der Staaten, für die das Bundesamt verpflichtet ist, eine solche Feststellung zu treffen, für die es eine ihm nachteilige Feststellung bereits getroffen hat oder in die abgeschoben zu werden sie aus berechtigtem Anlass befürchten müssen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.12.2001, BVerwGE 115, 267; Urt. v. 10.07.2003, BVerwGE 118, 308 und Urt. v. 02.08.2007, BVerwGE 129, 155). Da es sich beim Kosovo um den Herkunftsstaat der Kläger handelt, ist das Bundesamt und damit auch das Gericht zur Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich dieses Staates verpflichtet (vgl. BVerwG, Urt. v. 02.08.2007 a.a.O.).

In Anwendung dieser Grundsätze ist das Gericht bei der vorzunehmenden qualifizierenden und bewertenden Betrachtungsweise aufgrund der Auskünfte und Informationen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage im Kosovo zu der Überzeugung gelangt, dass dort im Hinblick auf die schwierige Versorgungslage für die alleinstehende, in ihrer Heimat über keinerlei familiären Rückhalt verfügende Klägerin zu 1 und ihre Kinder (die Kläger zu 2 - 5) deren Rückkehr in das Kosovo zu einer extremen Gefahr für Leib und Leben führen wird.

Die Klägerin zu 1 ist alleinerziehende Mutter. Sie wäre gehalten, im Kosovo nicht nur für den eigenen, sondern auch für den Unterhalt ihrer vier minderjährigen Kinder zu sorgen. Im Bundesgebiet leben die Kläger von Sozialhilfeleistungen. Angesichts einer Arbeitslosenquote von geschätzten 45 % (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien - Kosovo - vom 29.09.2007) wäre nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 1 durch Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt beitragen könnte, abgesehen davon, dass die meisten Lohnempfänger mit einem Gehalt auskommen müssen, das nicht existenzsichernd ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Zur Lage der medizinischen Versorgung - Update vom 07.06.2007, S. 2). Hinzu kommt, dass Angehörige der Minderheitengruppen Roma/Ashkali/Ägypter, zu denen die Kläger zählen, vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O. S. 3). Die Arbeitslosenquote bei diesen Minderheiten liegt deshalb bei 98 % (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Update: Aktuelle Entwicklungen, 12.08.2008, S. 20 und Stellungnahme vom 10.10.2008 : Asylsuchende Roma aus Kosovo, S. 2). Verwandte der Kläger halten sich im Kosovo nicht mehr auf. Die im Bundesgebiet lebenden Geschwister der Klägerin zu 1 können die notwendige dauernde Unterstützung der Kläger nicht gewährleisten. Die Geschwister der Klägerin zu 1 haben selbst zum Teil sehr große Familien und kommen nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin zu 1 gerade so über die Runden. Zwar haben die Geschwister der Klägerin zu 1 diese nach der Abschiebung im Juli 2005 mit geringen Geldbeträgen unterstützt. Die Klägerin zu 1 hat in der mündlichen Verhandlung jedoch glaubhaft vorgetragen, dass ihre Geschwister zu einer dauerhaften Unterstützung weder in der Lage noch gewillt sind und sie aufgrund fehlender dauerhafter Unterstützung den Kosovo nach sechs Wochen wieder hat verlassen müssen. Angesichts dieser Situation kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Geschwister der Klägerin zu 1 für die im Kosovo anfallenden Kosten für den Lebensunterhalt aufkommen können.

Das Gericht sieht keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass Familienangehörige unabhängig von der konkreten Vermögens- und Einkommenssituation auch unter Zurückstellung eigener Bedürfnisse die unmittelbaren Angehörigen nach deren Rückkehr in das Kosovo in einem solchen Umfang finanziell unterstützen, der für die Deckung der Kosten zum Lebensunterhalt ausreichend sein wird. Die gegenteilige Auffassung des VG Karlsruhe (Urt. v. 17.05.2006 - A 4 K 10267/04 - Juris -) kann weder einen diesbezüglichen Erfahrungssatz in Anspruch nehmen noch nachprüfbare Belege anführen. Angesichts des Umstandes, dass gegenwärtig geschätzte 37 % der Bevölkerung des Kosovo unterhalb der Armutsgrenze und 15 % in extremer Armut leben (vgl. Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28), entbehrt die nur auf einer Behauptung basierende Annahme des VG Karlsruhe jeglicher Plausibilität und Wahrscheinlichkeit.

Im Kosovo gibt es weder eine Arbeitslosenversicherung noch eine Krankenversicherung (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Zur Lage der medizinischen Versorgung - Update, 07.06.2007, S. 4 und 16). Von staatlichen Stellen, zwischenstaatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen erhalten Personen, die aus Westeuropa abgeschoben werden, keine Unterstützung (vgl. Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Stellungnahme vom 10.10.2008: Asylsuchende Roma aus Kosovo, S. 4). Diese Feststellungen der sachverständigen Stellen haben sich nach der Abschiebung der Kläger im Juli 2005 als zutreffend erwiesen. Die Kläger wären somit im Kosovo völlig auf sich allein gestellt und könnten mit einer Unterstützung der Internationalen Organisationen, der Kosovo-Regierung oder lokaler Stellen bei der Unterbringung, der sozialen und medizinischen Versorgung oder beim Wiederaufbau ihres zerstörten Hauses mit Unterstützung nicht rechnen. Auch das Auswärtige Amt (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien - Kosovo - vom 29.11.2007) bezeichnet die Unterkunftsfrage für rückkehrende Angehörige der Gruppen der Roma, Ashkali und Ägypter als extrem problematisch; Angehörige dieser Minderheiten könnten nur schwer in privaten Wohnraum vermittelt werden, da sie häufig nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügten und als Mieter selten akzeptiert würden. Ob die Kläger im Kosovo Sozialhilfe erhalten könnten, erscheint zweifelhaft, da Sozialhilfe nur bewilligt wird, wenn u. a. mindestens ein Kind im Haushalt jünger als fünf Jahre ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Update: Aktuelle Entwicklungen 12.08.2008, S. 17). Selbst wenn die Kläger im Kosovo aber Sozialhilfe erhielten, wären sie nicht in der Lage, hierdurch ihr wirtschaftliches Überleben zu gewährleisten. Die Sozialhilfeleistungen im Kosovo bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau; sie betragen für Einzelpersonen 35,00 EUR monatlich und für Familien (abhängig von der Zahl der Personen) bis zu 75,00 EUR monatlich und reichen damit als alleinige Einkommensquelle unter Berücksichtigung der lokalen Lebenshaltungskosten zum Leben nicht aus (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien - Kosovo - vom 29.11.2007; Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28). [...]