VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.12.2008 - 11 S 1454/08 - asyl.net: M14723
https://www.asyl.net/rsdb/M14723
Leitsatz:

1. Hat ein Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen eine behördliche Verfügung begangen, die eine ausländerrechtliche Mitwirkungspflicht (hier zur Beschaffung eines Identitätspapiers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG) konkretisiert, kann er nach § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ausgewiesen werden; der besondere Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt das nicht aus (Bestätigung des Senatsbeschlusses vom 08.06.2006 - 11 S 2135/05 - juris im Anschluss an VG Sigmaringen, Beschluss vom 04.10.2005 - 6 K 1323/05 - juris).

2. Eine solche Ausweisung setzt keinen Hinweis im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG voraus.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Rechtsgrundlage, Wechsel der Rechtsgrundlage, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Mitwirkungspflichten, Hinweis, Hinweispflicht, Passverfügung, Passbeschaffung, Passpflicht, abgelehnte Asylbewerber, Bindungswirkung, Ablehnungsbescheid, Ausländerbehörde
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1; AsylVfG § 15; AsylVfG § 42 S. 2
Auszüge:

1. Hat ein Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen eine behördliche Verfügung begangen, die eine ausländerrechtliche Mitwirkungspflicht (hier zur Beschaffung eines Identitätspapiers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG) konkretisiert, kann er nach § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ausgewiesen werden; der besondere Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt das nicht aus (Bestätigung des Senatsbeschlusses vom 08.06.2006 - 11 S 2135/05 - juris im Anschluss an VG Sigmaringen, Beschluss vom 04.10.2005 - 6 K 1323/05 - juris).

2. Eine solche Ausweisung setzt keinen Hinweis im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG voraus.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. [...] Die Ausweisung kann jedenfalls auf § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützt werden. [...]

Die Anwendung von § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG wird auch nicht durch den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen; dieser ist insbesondere nicht spezieller. Das hat der Senat bereits mit Beschluss vom 8. Juni 2006 (- 11 S 2135/05 -, juris) im Hinblick auf entsprechende Ausführungen des Verwaltungsgerichts Sigmaringen (Beschluss vom 04.10.2005 - 6 K 1323/05 -, juris) entschieden. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte für einen solchen Tatbestandsausschluss, etwa weil die Hinweispflicht des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht "umgangen" werden dürfte (a.A. bzgl. § 46 AuslG: OVG Bremen, Beschluss vom 31.03.2003 - 1 B 348/02 -, NördÖR 2003, 211 sowie Alexy in: Hofmann/Hoffmann, AuslR, 2008, § 55 Rn. 19 f.). Die Gesetzesmaterialien geben nichts dazu her, dass der Gesetzgeber sämtliche Ausweisungen wegen Verstößen gegen Mitwirkungspflichten von einer vorherigen Belehrung abhängig machen wollte. Die Materialien treffen vielmehr hierzu und zum Verhältnis der Ausweisungstatbestände in § 55 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG keine Aussagen (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 183, 15/420 S. 90, sowie zur Vorgängernorm des § 46 AuslG: BT-Drs. 14/7386 <neu> S. 56, 11/6321 S. 72). Ebenso wenig sprechen Wortlaut, telos oder Systematik für die Annahme eines solchen Tatbestandsausschlusses. Die Ausweisungstatbestände in § 55 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG haben nur teilweise überschneidende Anwendungsbereiche. Insoweit stehen sie in einem stimmigen Stufenverhältnis zueinander (überzeugend: VG Sigmaringen, a.a.O.). Weigert sich etwa ein Ausländer beharrlich, wichtigen ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten nachzukommen, sodass nicht nur vereinzelte oder geringfügige Verstöße gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen vorliegen, ist ohne weiteres und insbesondere ohne speziellen vorherigen Hinweis die Ermessensausweisung gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG eröffnet. Sind die Verstöße dagegen nur vereinzelt oder nur von geringem Gewicht, so wird die Ermessensausweisung lediglich dann ermöglicht, wenn der Ausländer zuvor - im Sinne einer Warnfunktion - hierauf hingewiesen worden ist. Die Hinweispflicht des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG dient insoweit mithin als Korrektiv für Ausweisungen unterhalb der Stufe des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Für ihre Ausdehnung, entgegen des Gesetzeswortlautes, auf Fälle des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG oder die Ableitung einer diesbezüglich tatbestandsausschließenden Wirkung sprechen nach Auffassung des Senats keine überzeugenden Argumente (im Ergebnis ebenso: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.06.2006 - 17 B 1080/05 -, www.ovg.nrw.de; Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.04.2006 - 24 ZB 06.452 -, juris). [...]

Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG liegen vor. Der Aufenthalt des Klägers beeinträchtigt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland, weil er nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen eine behördliche Verfügung verstoßen hat. Es liegen Verstöße gegen die dem Kläger im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 04.03.2004 gemäß § 15 AsylVfG auferlegten Pflichten vor, gültige Reisedokumente vorzulegen bzw. solche bei einer persönlichen Vorsprache bei der iranischen Botschaft zu beantragen. Der Kläger ist dieser Passverfügung bis zum heutigen Tag nicht nachgekommen. Da er nicht nur in einem Fall oder wenigen Fällen gegen seine hierdurch konkretisierte Passpflicht verstoßen hat, sondern vielmehr seit Jahren und permanent hiergegen verstößt, liegt nicht nur ein vereinzelter Verstoß vor. Auch eine Geringfügigkeit kann aufgrund der jahrelangen und beharrlichen Verstöße, zumal nach gerichtlicher Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Passverfügung, nicht angenommen werden. Die sogenannte Passpflicht gehört zudem zu den grundlegendsten Pflichten des Ausländers im Ausländerrecht (vgl. Wenger in: Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 3 Rn. 3 sowie §§ 3 Abs. 1, 48 Abs. 3 AufenthG). Im Übrigen kann der Kläger seit Jahren, wie er genau wissen dürfte, vor allem aufgrund seiner Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung nicht abgeschoben werden und muss weiterhin geduldet sowie mittels Sozialleistungen staatlich versorgt werden. Da er 1996 in den Iran und im Jahr 2000 aus dem Iran in die Bundesrepublik gereist ist, spricht schließlich viel dafür, dass er tatsächlich über Reisedokumente verfügt (hat), die zur Verhinderung seiner Abschiebung unterdrückt werden. Dies alles verleiht den Verstößen ein besonderes Gewicht und lässt sie als nicht geringfügig erscheinen. [...]

Asylrechtsrelevante Umstände, die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder Abs. 7 AufenthG begründen könnten, sind hier ohne Relevanz, weil der Beklagte gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die entsprechenden (negativen) Feststellungen des Bundesamtes in den Bescheiden vom 14.12.2000 und 20.08.2004 gebunden ist. [...]

Ermessensfehler sind nicht gegeben und die Ausweisung ist auch verhältnismäßig. [...]