VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 02.12.2008 - A 5 K 1217/06 - asyl.net: M14724
https://www.asyl.net/rsdb/M14724
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden aus der Südosttürkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Rechtskraft, Bindungswirkung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verpflichtungsurteil, Südosttürkei, Auswärtiges Amt
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden aus der Südosttürkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...]

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (bzw. früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, ist § 73 Abs. 1 AsylVfG in der Fassung von Art. 3 Nr. 46a des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970). [...]

Wegen des Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12.08.1992 (A 7 K 21251/90) steht rechtskräftig fest, dass der Kläger Yezide ist und wegen seiner Religion in der Türkei politisch verfolgt worden ist. [...]

Stützen lässt sich der angefochtene Widerruf auch nicht auf eine Änderung der allgemeinen Verhältnisse für aus der Südosttürkei stammende Yeziden. Denn nach wie vor lässt sich für aus dem Südosten der Türkei stammende türkische Staatsangehörige yezidischen Glaubens, die im Zeitpunkt ihrer Ausreise Ende der achtziger Jahre wegen ihres Glaubens mittelbar vom türkischen Staat verfolgt wurden, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei dort erneut keinen Schutz vor Übergriffen insbesondere muslimischer Kurden erfahren würden. Wesentlich geändert hat sich die Lage in der Türkei auch nicht hinsichtlich der Umstände, welche es Ende der achtziger Jahre glaubensgebundenen Yeziden erschwert haben, etwa in den westlichen Großstädten der Türkei Fuß zu fassen.

Unerheblich ist insoweit, ob sich die Verhältnisse insoweit vor einigen Jahren günstiger dargestellt haben und damals Yeziden in einer beachtlichen Zahl die Lage selbst als so viel besser beurteilt haben, dass sie sich zur Rückkehr oder zumindest zum Erwerb von Immobilien in oder in der Nähe von ehemaligen Heimatorten entschlossen haben. Denn jedenfalls im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) erscheinen die Aussichten für die Angehörigen der genannten Gruppe, in der Türkei ohne asylerhebliche Bedrängnisse und ggf. mit hinreichendem staatlichem Schutz leben zu können, wieder düsterer.

Die Kammer schließt sich insoweit der wohl überwiegenden Zahl der Verwaltungsgerichte an, die zum Teil schon seit längerer Zeit eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse oder jedenfalls eine hinreichende Rückkehrsicherheit verneinen (OVG Rhld.-Pf., Urt. v. 05.06.2007 - 10 A 11576/06 OVG und Beschl. v. 21.02.2008 - 10 A 11002/07; wohl auch OVG Schl.-Holst., Urt. v. 29.09.2005 - 1 LB 38/04 -; VG Freiburg, Urt. v. 25.07.2006 - A 6 K 11023/05 -; VG Stuttgart, Urt. v. 09.03.2007 - A 9 K 1159/06 - und Urt. v. 12.02.2008 - A 9 K 6125/07 -; VG Saarland, Urt. v. 14.02.2008 - 6 K 400/07 -; VG München, Urt. v. 29.05.2008 - M 24 K 07.50922; VG Dresden, Urt. v. 23.07.2008 - A 4 K 30188/06 -, alle juris).

Sie folgt nicht den Entscheidungen, die eine Rückkehr auch bei Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs als zumutbar beurteilen (Nieders. OVG, Urt. v. 17.07.2007 - 11 LB 332/03 -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 24.10.2007 - 3 L 303/04 und Urt. v. 30.01.2008 - 3 L 75/06 -; freilich nur eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr eindeutig verneinend OVG NW, Urt. v. 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A; ferner VG Hannover, Urt. v. 19.12.2007 - 1 A 2781/07 -; VG Oldenburg, Urt. v. 16.10.2008 - 5 A 529/06 -; VG Stuttgart, Urt. v. 12.09.2008 - A 10 K 4484/07 -, allerdings nur zu Dörfern um Viransehir, alle juris).

Aus den Gründen, die insbesondere in den angeführten Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz näher ausgeführt werden, hat auch die Kammer erhebliche Zweifel daran, dass die Auskünfte des Auswärtigen Amts vom 03.02.2004 an das Verwaltungsgericht Braunschweig, vom 20.01.2006 an das Verwaltungsgericht Magdeburg und vom 26.01.2007 an das Oberverwaltungsgericht Lüneburg und seine darin enthaltenen Stellungnahmen (vgl. auch die ergänzende Stellungnahme vom 03.05.2007 an das Oberverwaltungsgericht Lüneburg) die sachlichen und substantiierten Berichte des Yezidischen Forums e.V., Oldenburg vom 04.07.2006 und dessen Einschätzung der Lage auch in der Stellungnahme vom 20.03.2007 gegenüber dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg sowie die Einschätzungen von Azad Baris vom 17.04.2006 an das Verwaltungsgericht Magdeburg entkräften können. Das Auswärtige Amts scheint vielmehr die Lage durchweg zu günstig einzuschätzen.

Dies beginnt mit den Angaben zur Zahl der Yeziden, die - nach dem Exodus der Glaubensgemeinschaft bis zum Ende der achtziger Jahre und nach der Rückkehr Einzelner in den Jahren etwa seit dem Jahr 2000 - derzeit in der Türkei leben sollen. Sie beträgt nach verschiedenen Quellen zwischen 500 und 2.000 gegenüber mehreren Zehntausend noch Anfang der achtziger Jahren. Dass Yeziden sich in großer Zahl - die Rede ist von 7.000 Fällen - in jüngerer Zeit von Deutschland aus um Sicherung und Erhalt ihrer Immobilien in den ehemaligen Siedlungsgebieten bemühen, ist noch kein hinreichender Anhaltspunkt dafür, dass sie selbst von einer wesentlichen Verbesserung der Lage ausgehen, die ja schon in den achtziger Jahren nicht durchweg katastrophal, sondern von Ort zu Ort anders war. Ferner müssen die Ermittlungen eines Vertrauensanwalts der Deutschen Botschaft zu den vom Yezidischen Forum angegebenen Vorfällen mit großer Vorsicht beurteilt werden. Denn wegen der Marginalisierung der Yeziden ist nicht ohne Weiteres anzunehmen, dass sich die wenigen Zurückgebliebenen oder einzelne Rückkehrer in einer Weise offen äußern, die ihnen bei der Mehrheit der andersgläubigen Kurden und bei den Behörden Schwierigkeiten bereiten könnten. Erst recht mit Vorsicht zu bewerten sind die von einem Vertrauensanwalt der Deutschen Botschaft bei Behörden eingeholten Auskünfte, von denen kaum erwartet werden kann, dass sie etwaige Ermittlungsmängel in Verfahren wegen Körperverletzungs- und Tötungsdelikten offenlegen. Dass die Zahl der vom Yezidischen Forum berichteten Delikte vergleichsweise gering ist, mag gegen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von Fällen sprechen, in denen vor Übergriffen insbesondere kurdischer Großgrundbesitzer oder von Dorfschützern, die die Häuser der ausgereisten Yeziden übernommen haben, kein ausreichender staatlicher Schutz erlangt werden kann. Mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen lässt sich dies aber nicht. Insoweit darf nicht außer Acht bleiben, dass zur Zeit nur noch ganz wenige Yeziden in den alten Siedlungsgebieten leben und es sich bei ihnen durchaus überwiegend um solche handeln kann, die schon früher, aus welchen Gründen auch immer, etwa wegen eines besseren Verhältnis zu den moslemischen Kurden im jeweiligen Ort, nicht in der gleichen Weise bedrängt worden waren.

Hinzu kommt, dass sich gegenwärtig allgemein die Lage der religiösen Minderheiten in der Türkei und auch in den angrenzenden kurdischen Siedlungsgebieten, insbesondere im Irak, wieder zu verschlechtern scheint. Berichtet wird das vor allem für Christen in der Türkei (zusammenfassend Oehring vom 06.04.2008 an VG Stuttgart und zahlreiche Presseartikel, insbesondere auch zu den Schwierigkeiten für Rückkehrer, etwa FAZ vom 01.07.2008 "Bittere Rückkehr"). Dementsprechend hat die Europäische Union erst jüngst wieder die Türkei zur Achtung der Religionsfreiheit aufgerufen (KNA vom 18.02.2008). Für den überwiegend kurdisch besiedelten Nordirak spricht das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 02.11.2007 (Seite 16) von einem erheblichen Verfolgungsdruck für Yeziden in der Region Kurdistan-Irak. Am verheerendsten waren Anschläge auf zwei von Yeziden bewohnte Dörfer am 14.08.2007 im Sinjar-Gebiet, bei denen bis zu 400 Menschen starben, tausende verletzt und hunderte Häuser zerstört wurden (Gesellschaft für bedrohte Völker - www.gfb.de, Stand 24.11.2008). Diese Verschlechterung der Lage oder jedenfalls die Schwierigkeiten bei ihrer Beurteilung zeigen sich auch darin, dass ein aktueller Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei überfällig ist. Der letzte stammt vom 27.10.2007 und gibt den Stand vom September 2007 wieder. Zudem hat das Bundesamt der Kammer im vorliegenden Verfahren auch auf wiederholte Bitte weder neue Erkenntnisse zur Lage der Yeziden in der Türkei noch eine neue eigene Beurteilung der aktuellen Entwicklung für religiöse Minderheiten in der Türkei mitgeteilt. [...]