FG Hessen

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Zitieren als:
FG Hessen, Gerichtsbescheid vom 07.11.2008 - 3 K 2236/03 - asyl.net: M14726
https://www.asyl.net/rsdb/M14726
Leitsatz:

Für türkische Staatsangehörige besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen vom 11.12.1953 über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen (BGBl. II 1956, 507) Anspruch auf deutsches Kindergeld nach § 62 Abs.1 Nr.1 EStG, wenn sie seit wenigstens sechs Monaten in Deutschland wohnen. Das abkommensrechtliche Merkmal "wohnen" wird auch von Asylbewerbern erfüllt, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.

 

Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Türken, Asylbewerber, Vorläufiges Europäisches Sozialabkommen, Wohnen, gewöhnlicher Aufenthalt, Gemeinschaftsunterkünfte
Normen: EStG § 62 Abs. 2; EStG § 62 Abs. 1; AO § 9; AO § 8; AsylVfG § 47 Abs. 1; AsylVfG § 48; SGB I § 30 Abs. 3
Auszüge:

Für türkische Staatsangehörige besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen vom 11.12.1953 über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen (BGBl. II 1956, 507) Anspruch auf deutsches Kindergeld nach § 62 Abs.1 Nr.1 EStG, wenn sie seit wenigstens sechs Monaten in Deutschland wohnen. Das abkommensrechtliche Merkmal "wohnen" wird auch von Asylbewerbern erfüllt, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.

(Amtlicher Leitsatz)

 

[...]

Die Klage ist begründet. Die Familienkasse hat es zu Unrecht abgelehnt, entsprechend dem Antrag des Beigeladenen vom 03.03.2003 Kindergeld festzusetzen.

1. Der hier in Rede stehende Anspruch auf Kindergeld ergibt sich zwar nicht aus § 62 Abs. 2 EStG. Er folgt auch nicht aus Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 (BGBl. II 1965, 1169) und ebenfalls nicht aus dem Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei Nr. 3/80 vom 19.09.1980 (Amtsblatt EG Nr. C 110, 60). All dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Eine Anspruchsgrundlage bieten jedoch das Vorläufige Europäische Abkommen i.V.m. § 62 Abs. 1 EStG.

a) Der Beigeladende wird vom persönlichen Anwendungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens erfasst. Gemäß Artikel 2 gilt das Abkommen für die Staatsangehörigen der vertragsschließenden Staaten. Der Beigeladene, der die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, gehört zu diesem Personenkreis. Die Türkei ist dem Vorläufigen Europäischen Abkommen mit Wirkung zum 01.05.1967 beigetreten.

b) Das Vorläufige Europäische Abkommen erstreckt sich sachlich auf das deutsche Kindergeld. Die Sozialsysteme, die dem Abkommen unterliegen, sind dessen Anhang I zu entnehmen. In der bundesdeutschen Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III zu dem Vorläufigen Europäischen Abkommen vom 08.03.1972 wird im Anhang I für die Bundesrepublik Deutschland unter Buchst. d das Kindergeld genannt (BGBl. 1972 II 175, 177; ebenso in der weiteren Bekanntmachung vom 17.01.1985, BGBl. II 311, 313).

c) Entgegen der Auffassung der Familienkasse erfüllt der Beigeladene auch die Merkmale des Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Vorläufigen Europäischen Abkommens. Nach der genannten Vertragsbestimmung haben die nach dem Abkommen begünstigten Personen – vorbehaltlich anderer Vertragsbestimmungen – Anspruch auf Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen vertragsschließenden Staates unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Staates, sofern sie seit wenigstens sechs Monaten im Staatsgebiet wohnen.

Einen Anspruch auf Kindergeld nach den Bestimmungen des Einkommensteuergesetzes hat nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG in der Regel derjenige, der im Inland seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhält Kindergeld nur nach den in § 62 Abs. 2 EStG genannten (hier – wie erwähnt – nicht strittigen) Voraussetzungen. Einen Wohnsitz hat nach § 8 AO jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat nach § 9 Satz 1 AO jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der Abgabenordnung ist nach § 9 Satz 2 AO stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer.

Im Streitfall erfüllte der Beigeladene während des hier maßgebenden Zeitraums sowohl das Merkmal "wohnen" im Sinne des Vorläufigen Europäischen Abkommens (siehe unten aa) als auch das Merkmal "gewöhnlicher Aufenthalt" im Sinne des § 62 Abs. 1 EStG sowie des § 9 AO (siehe unten bb).

aa) Im Schrifttum und nunmehr auch in der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, der Begriff "wohnen" entspreche dem Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der §§ 8 und 9 AO. Dazu wird der Zweck der Abkommensbestimmung hervorgehoben, der in der rechtlichen Gleichstellung von den durch das Abkommen begünstigten Personen einerseits und von Inländern andererseits liegen soll (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, D. II. Tz. 4 f.; Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 31.07.2008 14 K 2206/06 Kg, StE 2008, 628 sowie juris).

Die Finanzverwaltung legt den Begriff "wohnen" im Sinne der vorgenannten Abkommensbestimmung hingegen folgendermaßen aus: Der Begriff sei zwar nicht identisch mit dem des Wohnsitzes im Sinne des deutschen Rechts. Er setze jedoch voraus, dass die betreffende Person länger im Inland verweile und über eine eigene Wohnung verfüge. Eine Gemeinschaftsunterkunft stelle keine eigene Wohnung dar. Asylbewerber wohnten erst ab dem Zeitpunkt im Inland, von dem an sie nicht mehr zum Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung verpflichtet seien (vgl. Anlage 2 zum Rundbrief 76/2002, 2.5, Tz. 57 ff.).

Der Senat folgt der vom Schrifttum und vom Finanzgericht Düsseldorf vertretenen Auffassung. Dabei geht er davon aus, dass der Begriff "wohnen" vorrangig nach dem Zweck der Abkommensregelung und nicht nach einem eng gefassten Wortverständnis auszulegen ist.

Im Rahmen der innerstaatlichen Anwendung von überstaatlichen Regelungen sind die Auslegungsgrundsätze des Art. 31 Wiener Übereinkommen vom 23.05.1969 über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention, BGBl. II 1985, 926) heranzuziehen. [...]

(1) Eine Auslegung des Abkommenstextes im Sinne einer reinen "Begriffsjurisprudenz" führt jedenfalls nicht dazu, dass der Begriff "wohnen" – entsprechend der Auffassung der Finanzverwaltung – so zu verstehen ist, als müsse die betreffende Person über eine "eigene" Wohnung verfügen. Dies ergibt sich zum einen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch und zum anderen aus einem Vergleich mit anderssprachigen Textfassungen des Abkommens.

Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff "wohnen" nicht unbedingt in dem Sinne des Innehabens einer eigenen Wohnung verstanden. So kann man auch in einem Hotelzimmer wohnen. Von einem ähnlichen Wortsinn geht auch der Gesetzgeber im Rahmen der Regelungen in § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 48 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) aus. Dort ist die Rede davon, dass die betreffenden Asylbewerber in der für sie zuständigen Aufnahmeeinrichtung "wohnen".

Auch aus der englischsprachigen wie der französischsprachigen Fassung des Abkommens ergeben sich keine Anhaltspunkte für das von der Finanzverwaltung herangezogene Begriffsverständnis. [...]

(2) Eine Auslegung des Abkommenstextes nach seinem Sinn und Zweck gebietet es, dem Begriff "wohnen" sowohl den Wohnsitz im Sinne des § 8 AO als auch den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 9 AO zuzuordnen. Das Vorläufige Europäische Abkommen verfolgt den Zweck, den dort angesprochenen Personenkreis im Hinblick auf die soziale Sicherheit rechtlich mit Inländern gleichzustellen. Für den Fall, dass Inländer bestimmte soziale Ansprüche haben, sollen diese unter gleichen Voraussetzungen auch dem ausländischen Personenkreis zustehen, der von dem Regelungsbereich des Abkommens erfasst wird. Anhaltspunkte für diesen Regelungszweck ergeben sich hinreichend deutlich aus der Präambel des Abkommens sowie aus dem Einleitungssatz des Art. 2 Abs. 1 des Abkommens. Die Präambel betont den Grundsatz der "Gleichbehandlung" der Angehörigen aller vertragsschließenden Staaten bei der Anwendung der in jedem dieser Staaten geltenden Gesetze und Regelungen über Soziale Sicherheit. Nach Art. 2 Abs. 1 des Abkommens sollen die hier begünstigten Personen "unter denselben Bedingungen" wie die Staatsangehörigen des betreffenden Vertragsstaates Ansprüche auf bestimmte Leistungen haben.

Die persönlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld sind nach § 62 Abs. 1 EStG bei einem deutschen Staatsangehörigen unter zwei Sachverhaltsalternativen gegeben, und zwar unter der Bedingung, dass im Inland entweder ein Wohnsitz oder ein gewöhnlicher Aufenthalt besteht. Dem Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in dem Vorläufigen Europäischen Abkommen zum Ausdruck kommt, würde es widersprechen, wenn in der Bundesrepublik Deutschland die Angehörigen der anderen Vertragsstaaten in Bezug auf die zweite Sachverhaltsalternative (gewöhnlicher Aufenthalt) schlechter behandelt würden als deutsche Staatsangehörige.

bb) Nach der neueren Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hat ein Asylbewerber, der sich in der für ihn zuständigen Aufnahmeeinrichtung aufhält, dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Allerdings ist die Frage, ob ein Asylbewerber für die Dauer seines Anerkennungsverfahrens im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, von anderen Fachgerichten in der Vergangenheit abweichend beurteilt worden. So hat das BSG durch Urteil vom 31.01.1980 8b RKg 4/79 (BSGE 49, 254) entschieden, ein Asylbewerber habe keinen Anspruch auf Kindergeld nach dem damals gültigen Bundeskindergeldgesetz, weil er im Inland regelmäßig keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I) habe, solange seine Asylberechtigung nicht bindend oder rechtskräftig festgestellt sei. Seine Entscheidung hat es insbesondere mit dem Hinweis begründet, der Aufenthalt des Asylbewerbers im Inland habe nur vorläufigen Charakter. Der BFH hat sich dieser Beurteilung angeschlossen. In seinem Urteil vom 11.09.1987 III R 148/86 (BStBl. II 1988, 14) hat er zwar entschieden, ein Asylbewerber erlange rückwirkend einen Kindergeldanspruch, wenn er als Asylberechtigter anerkannt werde mit der Folge, dass nachträglich der Unterhaltshöchstbetrag nach § 33a Abs. 1 EStG entfalle. Gleichzeitig hat er aber ausgesprochen, für die Zeit des Anerkennungsverfahrens bestehe kein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 SGB I (ähnlich für den Fall der vorübergehenden Entsendung eines ausländischen Arbeitnehmers: Finanzgericht Hamburg, Urteil vom 09.02.2000 I 225/98, EFG 2000, 572).

Nach Auffassung des Senats ist diese Rechtsprechung inzwischen überholt. Das BVerwG hat nämlich durch Urteil in DVBl. 1999, 1126 entschieden, dass Spätaussiedler auch in einem Übergangswohnheim einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 SGB I begründen können. [...]

Aus Sicht des Senats spricht nichts dagegen, die Grundsätze, die die Rechtsprechung für die Anwendung des § 30 Abs. 3 SGB I entwickelt hat, auf den Regelungsbereich des § 9 AO zu übertragen. Denn § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I umschreibt den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in derselben Weise wie § 9 Satz 1 AO. Daran ändert sich auch nichts durch die Tatsache, dass in § 9 Satz 2 AO eine zusätzliche Fiktion für den Fall eines zeitlich zusammenhängenden Aufenthalts von mehr als sechs Monaten Dauer enthalten ist.

Demgegenüber erachtet der Senat die Erwägungen, mit denen das BSG und der BFH das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bei einem Asylbewerber verneint haben, als problematisch. Insbesondere die Annahme eines Schwebezustandes (in Bezug auf die Vorläufigkeit des Inlandsaufenthalts) dürfte mit dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung nur schwerlich zu vereinbaren sein. Denn nach § 38 AO entstehen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Maßgebend für die Entstehung eines Anspruchs auf Kindergeld ist § 66 Abs. 2 EStG. Danach wird das Kindergeld monatlich vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. [...]