VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 10.12.2008 - 1 A 173/06 - asyl.net: M14733
https://www.asyl.net/rsdb/M14733
Leitsatz:

Krankheitsbedingte Gefahren können einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 18 der Qualifikationsrichtlinie darstellen; Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Vietnam wegen Diabetes mellitus.

 

Schlagwörter: Vietnam, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, neue Beweismittel, Attest, ärztliche Stellungnahme, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, Krankheit, Diabetes mellitus, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2; RL 2004/83/EG Art. 18; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

Krankheitsbedingte Gefahren können einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 18 der Qualifikationsrichtlinie darstellen; Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG nach Vietnam wegen Diabetes mellitus.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Beklagte ist unter Aufhebung ihres angefochtenen Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass der Klägerin ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zur Seite steht.

1. Anzuwenden ist das ab 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl I 1950) in der mit Wirkung vom 28. August 2007 geltenden Fassung des "Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" - EURLAsylUmsG - vom 19.8.2007 (BGBl. I 2007, S. 1970). Daneben und vor allem ist die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG anzuwenden, welche die zuvor genannten Gesetze entscheidend prägt, so dass diese im Lichte der Qualifikationsrichtlinie auszulegen sind. [...]

2. Die Klägerin hat im Juli 2006 einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gestellt, der von der Beklagten im Bescheid vom 9. August 2006 zum Anlass genommen worden ist, im Wege der Ermessensausübung gem. § 51 Abs. 5 iVm §§ 48, 49 VwVfG in eine Überprüfung des Folgeantrages einzutreten.

2.1 Schon unter dem Gesichtspunkt neuer Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) ergibt sich hier allerdings ein Anspruch der Klägerin auf Durchführung eines neuen Verfahrens. Für die Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist zum einen erforderlich, dass ein Beweismittel "neu" ist. "Neu" ist es dann, wenn es während der Anhängigkeit des früheren Verwaltungsverfahrens entweder noch nicht existierte oder zwar schon vorhanden war, aber ohne Verschulden des Betroffenen nicht oder nicht rechtzeitig beigebracht werden konnten. [...]

Das die Klägerin betreffende Attest der Facharztpraxis vom 23. Juli 2006 ist danach "neu" weil es im ersten Asylverfahren nicht vorlag und nicht vorliegen konnte. Es werden in dem Attest auch damals nicht bekannte Umstände verwertet, die eine der Klägerin günstigere Entscheidung - wären sie bekannt gewesen - herbeigeführt hätte. [...]

3. Das geltend gemachte Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG), das an eine Soll-Vorschrift geknüpft ist, hängt stets von einer individuellen Einzelfallbetrachtung ab, die von der Beklagten nicht in der durch die rechtsverbindliche Qualifikationsrichtlinie 2004/ 83/EG gebotenen Weise durchgeführt worden ist. Denn Abschiebungsverbote nach der gen. Richtlinie gehen nationalen Abschiebungsverboten vor und sind ihrerseits anders ausgestaltet (vgl. Entscheidungen Asyl 11/2008 S. 1 mwN. und BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - (Rz. 13)):

"Dies hat zur Folge, dass in Bezug auf das Herkunftsland die dem subsidiären Schutzkonzept der Qualifikationsrichtlinie zuzuordnenden Abschiebungsverbote gegenüber den sonstigen (nationalen) ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten einen selbständigen Streitgegenstand bilden und ihre Feststellung nach der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden vorrangig vor der Feststellung eines sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots begehrt wird."

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist im Falle der Krankheit eines Asylbewerbers nach - das Gericht nicht bindenden - innerbehördlichen Hinweisen zudem bereits dann anzuerkennen, wenn sich dessen Erkrankung in seinem Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten dort nur "verschlimmert" iSv einer "wesentlichen Verschlechterung". Vgl. insoweit 60.7.1.2 der Vorl. Nds. VV-AufenthG vom 31.7. 2008:

"Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 darstellen. Erheblich ist die Gefahr, wenn sich der Gesundheitszustand aufgrund des rückführungsbedingten Abbruchs einer notwendigen und (auch in Anspruch genommenen) medizinischen Behandlung wegen einer unzureichenden oder nicht zugänglichen Behandlungsmöglichkeit im Heimatland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde."

In Anwendung der Qualifikationsrichtlinie ist darüber hinaus ein subsidiärer Schutzstatus gem. Art. 18, der insoweit sedes materiae ist, während u.a. Art. 15 nur - ohne Ausschließlichkeit - einige besondere Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz beschreibt ("gilt"), schon dann zuzuerkennen, wenn u.a. die Voraussetzungen des Kap. II erfüllt sind. Hiernach kommt es gem. Art. 4 Abs. 3 c) RL (im Kap. II) u.a. darauf an, ob bei einer konsequent individuellen Prüfung des Schutzantrages die "individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers" ergeben, dass er Handlungen "ausgesetzt sein könnte", die einem "sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind". Es kommt somit vorrangig darauf an, dass die bloße Möglichkeit von nicht näher festgelegten - undefinierten - Handlungen besteht, die einem Schaden iSv Art. 15 RL nur irgendwie gleichkommen bzw. ihm gleichzusetzen sind, was anhand einer prognostischen Beurteilung der Zustände im Heimatland festzustellen ist. Damit kommt eine große Vielzahl von Handlungen bzw. Maßnahmen in Betracht, die keine existenzielle Lebensbedrohung darzustellen brauchen, die aber als "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" (Art. 15 b RL) gelten können oder aber einer solchen Behandlung von ihrem Gewicht und ihrer Wirkungskraft her jedenfalls doch gleichkommen. Es ist also keineswegs und sozusagen ausschließlich erforderlich, dass die Beschreibung und Definition des Art. 15 RL mit seiner Berücksichtigung des humanitären Völkerrecht einschlägig und tatsächlich gegeben ist (vgl. dazu BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -), sondern es reicht für Art. 18 iVm Art. 4 Abs. 3 RL stets auch aus, dass bei der gebotenen individuellen Prüfung des Schutzantrages (Art. 4 Abs. 3 RL) nur mehr oder weniger gleichrangige bzw. "gleichzusetzende" Schäden - wie sie in Art. 15 RL mit Bezügen zum humanitären Völkerrecht definiert sind - bei Handlungen iSv Art. 4 Abs. 3 RL hervortreten und bei lebensnaher Betrachtung deutlich werden.

Bei Betrachtung solcher Handlungen, denen die Klägerin ausgesetzt sein könnte und die vergleichbare Schäden, wie z.B. in Art. 15 RL vorausgesetzt, anrichten könnten, ist angesichts einer gravierenden Krankheit einzubeziehen, dass die Klägerin in vietnamesischen Krankenhäusern, Apotheken oder Verkaufsstellen von Medikamenten u.U. nur deshalb abgewiesen werden könnte, weil sie nicht die erforderlichen finanziellen Mittel für ihre Behandlung oder den Kauf von Medikamenten hätte. Dabei ist gem. Art. 20 Abs. 3 der gen. Richtlinie auch die "spezielle Situation" u.a. von "Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern" gebührend einzubeziehen und zu berücksichtigen, was in finanzieller Hinsicht die Problematik verschärfen dürfte, da durch die Betreuung und Versorgung Minderjähriger bekanntermaßen regelmäßig erhebliche Finanzmittel gebunden werden.

4. Somit kommt es hier auf eine Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte an, welche die individuelle Lage der Klägerin prägen, falls sie mit ihrer Tochter nach Vietnam abgeschoben würde. [...]

In der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2008 hat die Klägerin dazu ausgeführt, dass es in Vietnam nur in drei Städten eine normale medizinische Versorgung gebe und in Apotheken anderer Städte, die grundsätzlich nicht so gut sortiert seien wie in Deutschland, "nur etwas zu hohen Preisen 'aus eigener Tasche'" erworben werden könne. Im Übrigen könne sie zu kühlende Medikamente, die ihr verordnet worden und auf der Medikamentenliste vom 5. Oktober 2007 enthalten seien, in Vietnam nicht aufbewahren, da ihr dort kein Kühlschrank zur Verfügung stehe. [...]

Diese Angaben der Klägerin decken sich mit den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Lagebericht v. 14.7.2008, S. 18), denen zufolge in Vietnam seit 2005 eine Krankenversicherung nur für Arbeitnehmer mit festen Arbeitsverträgen existiert, viele Behandlungen nur in Hanoi, Ho-Chi-Minh-Stadt, eventuell noch in einigen anderen großen Städten durchführbar seien, und Medikamente fast jeglicher Art zwar innerhalb kurzer Zeit prinzipiell eingeführt werden könnten, aber nur "zu entsprechenden Preisen". Lebensnotwendige Behandlungen könnten nur in den Großstädten und Provinzhauptstädten durchgeführt werden. Ärzte arbeiteten "kostendeckend" und nur "auf private Rechnung". Die neueren "Family-Doctor-Services" böten medizinische Versorgung " zu relativ hohen Preisen" an.

Unter solchen Umständen ist davon auszugehen, dass die erforderliche Diabetes-Behandlung für die Klägerin aus finanziellen Gründen in Vietnam - soweit derzeit übersehbar - auf Dauer nicht verfügbar sein wird.

[...]