OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 10.12.2008 - 13 LB 13/07 - asyl.net: M14735
https://www.asyl.net/rsdb/M14735
Leitsatz:

Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG zur Pflege und Betreuung der Eltern.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, volljährige Kinder, Eltern, Beistandsgemeinschaft, Pflegebedürftigkeit, Familienangehörige, Anerkennungsbescheid, Bindungswirkung, Ausländerbehörde, Verschulden, Mitwirkungspflichten, Ursächlichkeit, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 10 Abs. 3; AsylVfG § 42 S. 1; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG zur Pflege und Betreuung der Eltern.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Berufung bleibt erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu Recht verpflichtet, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen. [...]

Nach der bereits erwähnten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, ist eine freiwillige Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, die die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen unter anderem auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG. [...]

Aufgrund der von den Klägern angeführten Umstände liegt jedoch ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot vor. Der Senat ist der Auffassung, dass im Hinblick auf den Schutz der familiären Bindungen der Kläger gemäß Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK ihre Ausreise rechtlich unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist.

Dabei geht der Senat davon aus, dass der grundrechtliche Schutz der Familie unmittelbar keinen Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet gewährt. Die Ausländerbehörde hat jedoch bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, etwa bei Ermessensentscheidungen, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine Bindungen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl. 2006, 247, vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 -, DVBl. 2003, 1260, vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59 und vom 1. August 1996 - 2 BvR 1119/96 -, NVwZ 1997, 479; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19/96 -, BVerwGE 106, 13). Für die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, wobei eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist. Der grundrechtliche Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst auch die familiären Bindungen des volljährigen Kindes zu seinen Eltern und umgekehrt. Allerdings wird eine familiäre Gemeinschaft zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern im Regelfall als Begegnungsgemeinschaft geführt; in diesen Fällen ist die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis unbedenklich. Weitergehende Schutzwirkungen ergeben sich aus Art. 6 Abs. 1 GG aber dann, wenn ein Familienmitglied ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Nur unter diesen Voraussetzungen erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft. Kann der Beistand nur im Bundesgebiet erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, im Regelfall einwanderungspolitische Belange zurück. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verliert die grundrechtlich geschützte Beistandsgemeinschaft ihre Funktion nicht dadurch, dass sie nicht als Hausgemeinschaft gelebt wird oder die Lebenshilfe auch durch Dritte - etwa Pflegepersonal - erbracht werden kann. Vielmehr besteht eine Beistandsgemeinschaft grundsätzlich so lange, als ein Familienmitglied auf Lebenshilfe angewiesen ist und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe auch tatsächlich regelmäßig erbringt (BVerfG, Beschluss des 2. Senats vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81; Kammerbeschlüsse vom 1. August 1996, a.a.O., vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, NVwZ 1996, 1099 und vom 12. Dezember 1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Februar 2004 - 11 S 1131/03 -, BlBW 2004, 312). Im Fall des Verhältnisses von Eltern und Kindern ist zudem zu berücksichtigen, dass sie bereits nach dem Gesetz einander Beistand und Rücksicht schuldig sind (§ 1618a BGB).

Die Kläger haben substantiiert dargelegt, dass die Mutter der Klägerin zu 2, die seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet in der häuslichen Gemeinschaft der Kläger lebt, ein eigenständiges Leben nicht mehr führen kann, sondern auf ihre familiäre Lebenshilfe unabweisbar angewiesen ist und sie diese als gelebte Beistandsgemeinschaft tatsächlich regelmäßig erbringen. Ein solches Bedürfnis kann bei schwerwiegender Erkrankung/ Behinderung und/oder fortgeschrittenem Alter mit Pflegebedürftigkeit vorliegen. Darunter sind in einem umfassenden Sinne sämtliche persönlichen Betreuungs-, Versorgungs- und Unterstützungsleistungen zu verstehen. Unter den Begriff der familiären Lebenshilfe fallen die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen bei pflegebedürftigen Personen (z.B. Übernahme oder Hilfe bei der Körperpflege, Zubereitung und Verabreichung von Speisen, Hilfe beim Aufstehen, Gehen, Einkaufen, Wäschereinigung) sowie weitere Leistungen wie etwa die Beschaffung und Verabreichung von Medikamenten und die Übernahme sonstiger notwendiger Besorgungen einschließlich des erforderlichen Brief- und Schriftverkehrs. Auch wenn ein Teil der Pflegeleistungen von anderen Personen übernommen wird, ist ein Angewiesensein auf die familiäre Lebenshilfe zu bejahen, wenn der betreffende Familienangehörige die wesentlichen Betreuungs- und Unterstützungsleistungen im Übrigen erbringt. Dazu gehören auch die alltäglichen Versorgungsaufgaben und die Lebenshilfe im geistig-seelischen Bereich (vgl. zu diesen Gesichtspunkten BVerfG, Beschl. v. 1.8.1996, a.a.O.). [...]

Entgegen der Auffassung des Beklagten steht § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht entgegen. Danach darf eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. [...] Zwar spricht nach den Ausführungen des Beklagten im Berufungsverfahren einiges dafür, dass die nach Abschluss ihrer erfolglos gebliebenen Asylverfahren ausreisepflichtigen Kläger in den zurückliegenden Jahren ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht das Maß der gebotenen und zumutbaren Mitwirkung gezeigt haben, um die in ihrem Fall bestehenden Ausreisehindernisse zu beseitigen. Dies gilt insbesondere bei der Aufklärung ihrer richtigen Namen und Geburtsdaten sowie der ihnen ausländerbehördlich aufgegebenen Beschaffung von Reisedokumenten. Andererseits ist dem Senat aus anderen Verfahren mit aserbaidschanischen Staatsangehörigen bekannt, dass die Auslandsvertretung von Aserbaidschan die Beschaffung von Reisedokumenten nicht selten erschwert hat. Selbst wenn insoweit eine Verletzung von Mitwirkungspflichten der Kläger unterstellt wird und die verlangte Mitwirkungshandlung das in ihrem Fall bestehende Ausreisehindernis hätte beseitigen können, bleibt den Klägern ihre Ausreise wegen der schweren Erkrankung und Pflegebedürftigkeit ihrer (Schwieger-, und Groß-) Mutter weiterhin auf unabsehbare Zeit unmöglich, so dass seit der bestandskräftigen Feststellung eines Abschiebungsverbots durch das Bundesamt im Februar 2003 die erforderliche Kausalität zwischen der Unterlassung zumutbarer Handlungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse und der gerade deswegen unterbliebenen Ausreise fehlt (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. § 25 Rn. 36; Burr, in: GK-AufenthG, § 25 Rn. 43, 173; Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 25 AufenthG Rn. 36). Deshalb steht § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht entgegen.

Auch wenn danach die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, "kann" der Beklagte die begehrten Aufenthaltserlaubnisse erteilen und "kann" dabei gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Anwendung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Absätze 1 und 2 der Vorschrift absehen. Das ihm insoweit eröffnete Ermessen ist sowohl mit Blick auf die Regelung in § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG, wonach die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn die Abschiebung - wie hier - seit 18 Monaten ausgesetzt ist, als auch in Anbetracht der besonderen Umstände des vorliegenden Falles "auf Null" reduziert, weil die Versagung der Aufenthaltserlaubnisse mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre. Dazu gehört insbesondere der grundrechtlich gebotene Schutz von Ehe und Familie (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.3.1999 - 1 B 28.99 -, NVwZ-RR 1999, 610), der sowohl im Verhältnis der Kläger untereinander als auch im Verhältnis zu der pflegebedürftigen (Groß- und Schwieger-) Mutter unmittelbar wirkt und etwa gegenläufige einwanderungspolitische und fiskalische Gesichtspunkte angesichts des überragenden Gewichts, das gemäß Art. 6 Abs. 1 GG dem Wunsch nach Bewahrung der Familieneinheit im Falle des Angewiesenseins des aufenthaltsberechtigten Ausländers auf die Lebenshilfe der Angehörigen beizumessen ist, verdrängt. [...]