VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 03.03.2008 - 6 A 141/05 - asyl.net: M14736
https://www.asyl.net/rsdb/M14736
Leitsatz:

1. Die Entscheidung des Bundesamtes, der Asylantrag sei "offensichtlich" unbegründet, ist auf einen entsprechenden Antrag des Asylbewerbers vom Verwaltungsgericht im Klageverfahren aufzuheben, soweit die Behörde diese Entscheidung zu Unrecht auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt hat.

2. Um die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszulösen, genügt es, wenn das Bundesamt die Regelung in § 30 Abs. 3 AsylVfG neben dem § 30 Abs. 1 AsylVfG als Rechtsgrundlage für sein Offensichtlichkeitsurteil anführt und mangels einschränkender Zusätze davon auszugehen ist, dass es sich um eine diese Entscheidung selbstständig tragende Erwägung handelt.

3. Die Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG rechtfertigt die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet nur dann, wenn der Ausländer mit dem Asylantrag die gezielte Absicht verfolgt, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. Dafür gelten strenge Anforderungen. Der Hinweis des Bundesamtes, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben seien, reicht nicht aus.

 

Schlagwörter: Serbien, Muslime, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, fachärztliche Stellungnahme, eigene Sachkunde, posttraumtische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Depression, offensichtlich unbegründet, Anfechungsklage, Rechtsschutzbedürfnis, Sperrwirkung, abgelehnte Asylbewerber, Alternativbegründung, Beweislast
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 30 Abs. 3; AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2; AsylVfG § 30 Abs. 3 Nr. 4
Auszüge:

1. Die Entscheidung des Bundesamtes, der Asylantrag sei "offensichtlich" unbegründet, ist auf einen entsprechenden Antrag des Asylbewerbers vom Verwaltungsgericht im Klageverfahren aufzuheben, soweit die Behörde diese Entscheidung zu Unrecht auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt hat.

2. Um die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszulösen, genügt es, wenn das Bundesamt die Regelung in § 30 Abs. 3 AsylVfG neben dem § 30 Abs. 1 AsylVfG als Rechtsgrundlage für sein Offensichtlichkeitsurteil anführt und mangels einschränkender Zusätze davon auszugehen ist, dass es sich um eine diese Entscheidung selbstständig tragende Erwägung handelt.

3. Die Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG rechtfertigt die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet nur dann, wenn der Ausländer mit dem Asylantrag die gezielte Absicht verfolgt, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. Dafür gelten strenge Anforderungen. Der Hinweis des Bundesamtes, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben seien, reicht nicht aus.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die zulässige Klage ist überwiegend nicht begründet. [...]

I. Die Kläger können nicht verlangen, dass ihnen Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG gewährt wird.

1. Moslems aus Serbien sind dort wegen ihrer Religions- bzw. Volkszugehörigkeit weiterhin keinen Verfolgungsgefahren ausgesetzt, die zu Schutzansprüchen nach § 60 Abs. 1 AufenthG führen. Eine staatliche Verfolgung der muslimischen Minderheit findet in Serbien nicht statt; Übergriffe werden vom Staat geahndet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien vom 23.04.2007; Hess. VGH, U. v. 20.10.2005 - 7 UE 1365/05 -, juris; Nds. OVG, U. v. 22.09.2000 - 8 L 2690/95 - und v. 22.05.2001 - 8 L 5436/96 -; VG Braunschweig, B. v. 18.03.2005 - 6 B 142/05 -). Aufgrund der Unruhen, zu denen es im März 2004 in Serbien gekommen ist, gibt es gegenwärtig auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die serbischen Sicherheitskräfte erwiesenermaßen nicht willens oder nicht in der Lage sind, Schutz vor einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu gewähren (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG). [...]

3. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG. [...]

a) Die Kläger zu 1. und 3. können nach den vorliegenden Unterlagen auf dieser Grundlage nicht verlangen, dass ihnen aus gesundheitlichen Gründen Abschiebungsschutz gewährt wird. [...]

aa) Das Gericht hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugung gewinnen können, dass die den Klägern zu 1. und 3. eine posttraumatische Belastungsstörung attestierende Bescheinigung vom 12. Mai 2005 tragfähig ist. Liegt ein fachärztliches Attest vor, das dem Ausländer eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt, so kann das Gericht zwar regelmäßig mangels hinreichender eigener Sachkunde die Bescheinigung nicht von sich aus als nicht aussagekräftig ansehen (vgl. Nds. OVG, B. v. 14.09.2000 - 11 M 2486/00 -). Anders ist es aber dann, wenn die Bescheinigung nicht nachvollziehbar ist, weil sie insbesondere keine den anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begründung enthält, weil sie von anderen, nicht offensichtlich unzureichenden ärztlichen Stellungnahmen abweicht oder weil sie nicht erkennen lässt, dass objektiv bestehende, diagnoserelevante Zweifel berücksichtigt wurden (vgl. VG Braunschweig, U. v. 19.03.2004 - 6 A 66/03 -, NVwZ-RR 2005, 65 = AuAS 2004, 226). Dies ist hier der Fall.

Die von Dr. B. im Attest vom 12. Mai 2005 getroffene Diagnose, die Kläger zu 1. und 3. litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, ist unter Berücksichtigung aller Unterlagen gegenwärtig nicht nachvollziehbar. Für die Klägerin zu 1. ergibt sich dies schon daraus, dass ihr in dem von Dr. C. ausgestellten aktuellen Attest vom 12. November 2007 nur noch eine mittelgradige depressive Episode bescheinigt wird. Unabhängig davon enthalten auch die älteren Bescheinigungen keine einheitliche Diagnose. Auch für den Kläger zu 3. liegen einige Bescheinigungen vor, die zu einer abweichenden Diagnose gekommen sind. [...]

Die von Dr. B. erstellte Bescheinigung enthält auch keine konkreten Angaben dazu, auf welchen Trauma auslösenden Ereignissen und auf welcher Tatsachengrundlage im Übrigen diese Diagnose beruht (vgl. zu diesen Erfordernissen z.B. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: Leitlinien Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik – Posttraumatische Belastungsstörung, www.uni-duesseldorf.de/AWMF; Projektgruppe "Standards zur Begutachtung psychotraumatisierter Menschen": Standards zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen; Treiber, Asylpraxis Band 7, S. 15, 18 f. m.w.N.). Der knappe Hinweis, die Erkrankungen beruhten auf "Kriegserlebnissen im ehemaligen Jugoslawien", reicht nach den konkreten Umständen nicht aus. Nähere Ausführungen dazu wären schon deshalb erforderlich gewesen, weil die Klägerin zu 1. und der Kläger zu 3. im Rahmen ihrer Anhörungen vor dem Bundesamt lediglich von Übergriffen durch Polizisten und damit nur von Beeinträchtigungen gesprochen haben, die jedenfalls nicht ohne Weiteres als "Kriegserlebnisse" angesehen werden können. [...]

Hinzu kommt, dass die ärztliche Bescheinigung vom 12. Mai 2005 nicht hinreichend aktuell ist und das Gericht somit jedenfalls nicht die Überzeugung gewinnen konnte, aus den attestierten psychischen Beeinträchtigungen ergebe sich für die Kläger eine gegenwärtige, konkrete Gefahr.

Selbst wenn von einer posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen wäre, ließe sich mit dem Attest ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nicht begründen. Die Bescheinigung enthält keine Angaben dazu, welche Behandlung notwendig ist und wie sich eine unzureichende Behandlung auf den Gesundheitszustand der Kläger auswirken würde. [...]

bb) Einen Anspruch auf Abschiebungsschutz können die Kläger zu 1. und 3. nach gegenwärtigem Sachstand auch nicht daraus herleiten, dass ihnen in dem fachärztlichen Attest vom 12. Mai 2005 bescheinigt wird, unter Depressionen zu leiden, und der Klägerin zu 1. darüber hinaus in der Bescheinigung vom 12. November 2007 eine mittelgradige depressive Episode attestiert wird.

Wird einem Ausländer eine Depression bescheinigt, so führt dies nicht zwingend zu einem Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. VG Braunschweig, U. v. 28.03.2006 - 6 A 446/04 - und v. 28.11.2006 - 6 A 589/05 - m.w.N.). Erhebliche Gefahren für Leib oder Leben treten bei Depressionen nicht zwangsläufig ein, wenn die Behandlung nicht fortgeführt wird (vgl. auch Treiber in: Asylpraxis Band 7, S. 15, 27 f.). Darüber hinaus sind derartige Erkrankungen vielfach ausschließlich auf die Situation des Ausländers im Bundesgebiet zurückzuführen. Psychische Beeinträchtigungen, die ausschließlich durch die Situation des Ausländers im Bundesgebiet verursacht sind und die sich in seinem Heimatland nicht zu verschlimmern drohen, können zielstaatsbezogene, in einem Asylverfahren zu berücksichtigende Abschiebungshindernisse jedoch nicht begründen. Soweit derartige Beeinträchtigungen der Abschiebung als solcher entgegenstehen, können sie als sog. inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse allein von den Ausländerbehörden im ausländerrechtlichen Verfahren berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, U. v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 -, aaO., S. 385 ff.). Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die auch in weniger entwickelten Gesundheitssystemen zur Behandlung von Depressionen zur Verfügung stehenden Maßnahmen in einigen Fällen ausreichen können, um jedenfalls eine Verschlimmerung der seelischen Erkrankung in einem den Schutzanspruch nach § 60 Abs. 7 AufenthG ausschließenden Umfang zu verhindern. Nach diesen Maßstäben gibt es derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine durch die Depressionen der Kläger begründete konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG.

Die Atteste lassen nicht erkennen, dass ihnen erhebliche Gefahren für Leib oder Leben drohen, wenn die Behandlung und Medikation nicht fortgeführt wird. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine aktuell fortbestehende konkrete Suizidgefahr, die bei einer Rückkehr nach Serbien unvermindert fortbestehen würde und sich durch dort mögliche Maßnahmen nicht beseitigen ließe (vgl. dazu VG Braunschweig, U. v. 28.03.2006 - 6 A 446/04 -). [...]

c) Auch die allgemeine Situation in Serbien rechtfertigt es weiterhin nicht, muslimischen Volks- und Religionszugehörigen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren. [...]

II. Die angegriffenen Bescheide sind jedoch rechtswidrig, verletzen die Kläger in ihren Rechten und sind damit aufzuheben, soweit das Bundesamt ihren Asylantrag jeweils nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Die Kläger haben einen derart begrenzten Aufhebungsantrag zwar nicht ausdrücklich gestellt. Dieser Antrag ist jedoch (als "Minus") von ihrem auf die Aufhebung des angegriffenen Bescheides gerichteten Antrag umfasst, mit dem die Kläger erkennbar alle aus diesem Bescheid für sie resultierenden nachteiligen Rechtsfolgen beseitigen wollen (vgl. § 88 VwGO und Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 88 Rn. 1).

Die auf die Offensichtlichkeitsentscheidung beschränkte Anfechtung ist zulässig. Ein dahin gehendes Rechtsschutzinteresse ergibt sich aus der Regelung in § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Danach darf die Ausländerbehörde grundsätzlich - von den in Satz 3 der Vorschrift geregelten Ausnahmen abgesehen - vor der Ausreise keinen Aufenthaltstitel erteilen, sofern der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Aufgrund dieser gesetzlichen Sperre für die Erteilung von Aufenthaltstiteln ergeben sich für diejenigen Ausländer, deren Asylantrag das Bundesamt nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt hat, auch insoweit aus dem angegriffenen Asylbescheid eigenständige nachteilige Rechtsfolgen, die nur mit der gerichtlichen Aufhebung des Offensichtlichkeitsurteils - soweit es auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt wird - abgewendet werden können (vgl. BVerwG, U. v. 21.11.2006 - 1 C 10/06 -, juris Rn. 21 f. = BVerwGE 127, 161 ff.; Discher in: GK-AufenthG, Stand Februar 2008, § 10 Rn. 168). Insbesondere würde die bloße Abweisung der gegen den Bescheid des Bundesamtes gerichteten Klage die in § 10 Abs. 3 AufenthG geregelte Sperrwirkung nicht beseitigen. Ob der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt wurde und die Sperrwirkung entsteht, bestimmt sich maßgeblich nach dem Inhalt des Bundesamtsbescheides: Nur das Bundesamt als zuständige Behörde kann den Asylantrag nach dieser Vorschrift als unbegründet ablehnen; nach dem eindeutigen Wortlaut des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist es unerheblich, ob das Verwaltungsgericht die Klage als offensichtlich unbegründet abweist (ebenso Discher, aaO., Rn. 152 u. 163). Die gesetzliche Sperre für die Erteilung von Aufenthaltstiteln entfällt auch nicht schon dadurch, dass das Gericht einem Eilantrag gegen die vom Bundesamt verfügte Abschiebungsandrohung stattgegeben hat. Mit einer solchen Entscheidung wird nicht das Offensichtlichkeitsurteil beseitigt, sondern dem Ausländer lediglich im Hinblick auf die damit als Rechtsfolge verbundene verkürzte Ausreisefrist (§ 36 Abs. 1 AsylVfG) vorläufiger Rechtsschutz gewährt (im Ergebnis ebenso BVerwG, U. v. 21.11.2006, aaO., juris Rn. 22 m.w.N. zum Streitstand).

Das Rechtsschutzinteresse der Kläger entfällt nicht dadurch, dass das Bundesamt das Offensichtlichkeitsurteil in der Begründung beider Bescheide sowohl auf § 30 Abs. 1 AsylVfG als auch auf § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG gestützt hat. Um die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszulösen, genügt es, wenn das Bundesamt in der Begründung die Regelung in § 30 Abs. 3 AsylVfG als Rechtsgrundlage für das Offensichtlichkeitsurteil anführt und daher davon auszugehen ist, dass es sich um eine diese Entscheidung selbstständig tragende Erwägung handelt; dass der Bescheid außerdem noch § 30 Abs. 1 AsylVfG als Rechtsgrundlage benennt, ist dann unerheblich (so wohl auch Discher, aaO., Rn. 153 u. 155; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., § 2 Rn. 112; Wenger in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/C. Kreher, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, § 10 AufenthG Rn. 7; a.A. Dienelt, ZAR 2005, 120, 121).

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Regelungen in § 30 Abs. 3 AsylVfG, die die Ablehnung unbegründeter Asylanträge als "offensichtlich" unbegründet bei einer besonders schwerwiegenden Verletzung von Mitwirkungspflichten ermöglichen, nach der Systematik des Asylverfahrensrechts gegenüber den Vorschriften in § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG subsidiär sind. Es trifft zwar zu, dass es asylverfahrensrechtlich für die Begründung des Offensichtlichkeitsurteils auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht ankommt, wenn sich das Asylbegehren bereits nach den in § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG angeführten materiellen Kriterien als offensichtlich unbegründet erweist. Das ändert aber nichts daran, dass das Bundesamt selbst entscheiden darf, welchem Teil seiner Begründung und welchem der in diesem Zusammenhang erfolgten Hinweise auf die zugrunde liegenden Rechtsvorschriften es für das Offensichtlichkeitsurteil selbstständig tragende Bedeutung beimisst. Insbesondere darf das Bundesamt seine Entscheidung auch dann auf die formellen Kriterien in § 30 Abs. 3 AsylVfG stützen, wenn der Asylantrag in materieller Hinsicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden kann. Aus der Subsidiarität des § 30 Abs. 3 AsylVfG im Konzept der asylverfahrensrechtlich vorgesehenen Rechtsgrundlagen für das Offensichtlichkeitsurteil ergibt sich auch nicht zwingend, dass der Gesetzgeber dem auf die formellen Kriterien in § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten Offensichtlichkeitsurteil in Fällen der Doppelbegründung für die Sperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG keine eigenständige Bedeutung einräumen wollte. Maßgeblich für die Auslegung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist der in dieser Regelung zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers und nicht die Systematik der nach dem Asylverfahrensrecht für die Begründung des Offensichtlichkeitsurteils zur Verfügung stehenden Tatbestände.

Nach Sinn und Zweck des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entsteht die Sperrwirkung des Bundesamtsbescheides auch dann, wenn das Bundesamt sich in der Begründung - wie hier - sowohl auf § 30 Abs. 3 AsylVfG als auch auf § 30 Abs. 1 AsylVfG stützt und mangels relativierender Zusätze davon auszugehen ist, dass beide Hinweise das Offensichtlichkeitsurteil selbstständig tragen sollen. Die gesetzliche Sperre für Aufenthaltstitel dient dazu, die Aufenthaltsbeendigung für den betroffenen Personenkreis zu beschleunigen. Ein besonderes Interesse dafür sieht der Gesetzgeber, wenn das Bundesamt einen Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und somit unterstellt werden kann, dass der Ausländer das Asylverfahren missbräuchlich in Anspruch genommen hat. Solche Asylverfahren sollen nicht nur beschleunigt abgeschlossen werden, sondern auch dazu führen, dass der Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet kurzfristig beendet werden kann (vgl. Discher, aaO., Rn. 134 ff.). Dass die gesetzliche Sperre für Aufenthaltstitel nicht auch für die Fälle des § 30 Abs. 1 AsylVfG gilt, beruht darauf, dass nicht in allen Fällen offensichtlicher Unbegründetheit wegen materiell nicht bestehender Schutzansprüche ein Missbrauch des Asylverfahrens vermutet werden kann. Hat das Bundesamt das Offensichtlichkeitsurteil jedoch ausdrücklich auch auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt, ohne dies einzuschränken, so deutet alles darauf hin, dass es einen der gesetzlich geregelten Fälle einer schwerwiegenden Verletzung der Mitwirkungspflichten als gegeben ansieht. Daran ändert sich nichts durch die Tatsache, dass die Behörde in dem Bescheid außerdem die Regelung des § 30 Abs. 1 AsylVfG erwähnt. Die Ausländerbehörde darf deswegen nicht einfach über die im Übrigen vom Bundesamt angeführte Begründung hinwegsehen: Die Feststellung des Bundesamtes, ein Fall des § 30 Abs. 3 AsylVfG liege vor, lässt ohne weitere Ausführungen nicht den Schluss zu, dieser Begründungsteil habe neben dem Hinweis auf § 30 Abs. 1 AsylVfG keine selbstständige Bedeutung. Da dem Bundesamt bei der Begründung des Offensichtlichkeitsurteils das Recht zusteht, die aus seiner Sicht maßgebliche Rechtsgrundlage auszuwählen, deutet ein einschränkungsloser Hinweis auf § 30 Abs. 3 AsylVfG vielmehr darauf hin, dass nach Auffassung der Behörde (auch) eine derjenigen Konstellationen vorliegt, in denen der Gesetzgeber eine beschleunigte Aufenthaltsbeendigung für erforderlich hält.

Die mit diesem Normverständnis verbundene gerichtliche Anfechtbarkeit des auf die Missbrauchstatbestände gestützten Offensichtlichkeitsurteils entspricht letztlich auch dem aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden Gebot ausreichender Klarheit des Bestandes und Inhalts von Verwaltungsmaßnahmen: Die Ausländerbehörde braucht für ihre Entscheidung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG wegen der mit der Anwendung dieser Regelung für den Ausländer entstehenden weitreichenden Nachteile klare Vorgaben; dazu ist es erforderlich das Offensichtlichkeitsurteil zu beseitigen, sofern das Bundesamt diese Entscheidung ohne erkennbare Einschränkung ausdrücklich auch auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt hat und die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen.

Soweit sich die Klage gegen das auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützte Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes richtet, ist sie auch begründet. Das Bundesamt hat in den angegriffenen Bescheiden insoweit auf die Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG verwiesen. Danach ist der unbegründete Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer den Antrag gestellt hat, um eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden, obwohl er zuvor ausreichend Gelegenheit für einen Asylantrag hatte. Insofern ist die Entscheidung des Bundesamtes rechtswidrig.

Die Regelung in § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG rechtfertigt die Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet nur dann, wenn der Ausländer mit dem Asylantrag die gezielte Absicht verfolgt, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. Dafür gelten mit Rücksicht auf die einschneidenden Folgen des Offensichtlichkeitsurteils für das auf dem Asylgrundrecht beruhende Bleiberecht des Ausländers strenge Anforderungen. Das Bundesamt muss eindeutige Feststellungen treffen, mit denen die erforderliche Absicht nachgewiesen ist. Dazu hat es insbesondere zu ermitteln, ob nach den Umständen des konkreten Einzelfalles Gründe vorgelegen haben, die die späte Antragstellung rechtfertigen. Die erforderliche Absicht kann beispielsweise zu verneinen sein, wenn aus der Sicht des Ausländers bislang kein Anlass bestand, einen Asylantrag zu stellen. Kommt das Bundesamt nach Würdigung der konkreten Umstände und gegebenenfalls nach Aufklärung des Sachverhalts zu dem Ergebnis, dass es keine die späte Antragstellung rechtfertigenden Gründe gibt, muss es darlegen, dass und warum dies nicht der Fall ist. Der formelhafte Hinweis darauf, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben sind, reicht nicht aus (vgl. zu allem Schaeffer in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2008, § 30 AsylVfG Rn. 63 ff.; Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 30 Rn. 166 ff.). Diesen Anforderungen genügen die Entscheidungen des Bundesamtes nicht.

Das Bundesamt hat sich in beiden Bescheiden zur Begründung des Offensichtlichkeitsurteils nach § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylVfG darauf beschränkt, den Wortlaut der Vorschrift wiederzugeben. Es ist nicht ersichtlich, dass die Behörde Feststellungen zu der Frage getroffen hat, ob die Kläger mit der erst geraume Zeit nach der Einreise erfolgten Antragstellung die gezielte Absicht verfolgt haben, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. Dass es an einer solchen Absicht fehlte, war nach den Umständen des konkreten Falles - insbesondere wegen der sich nach den vorliegenden Unterlagen bereits über Jahre erstreckenden gesundheitlichen Probleme der Kläger zu 1. und 3. - auch nicht von vornherein ausgeschlossen. [...]