VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 26.11.2008 - 11 A 1233/08 - asyl.net: M14737
https://www.asyl.net/rsdb/M14737
Leitsatz:

Für die Anwendung der Altfallregelung des § 104 a AufenthG genügt es, wenn der Ausländer am 1.7.2007 zwar keine förmliche Duldung, aber einen Anspruch auf Duldung besitzt; Unterbrechungen des Besitzes einer Duldung, Aufenthaltsgestattung oder Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen können in entsprechender Anwendung des § 85 AufenthG unbeachtlich sein; atypische Umstände, die ein Abweichen von der Soll-Regelung des § 104 a Abs. 1 AufenthG rechtfertigen, liegen vor, wenn sicher davon auszugehen ist, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt nach dem 31.12.2009 nicht durch eigene Erwerbstätigkeit wird sichern können und auch kein Härtefall nach § 104 a Abs. 6 AufenthG vorliegt.

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, Duldung, Aufenthaltsdauer, Anspruch, Grenzübertrittsbescheinigung, Unterbrechung, atypischer Ausnahmefall, Lebensunterhalt, Zukunftsprognose, Verschulden, Härtefall, Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Ermessen, Aufenthaltsbefugnis
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 85; AufenthG § 104a Abs. 5; AufenthG § 104a Abs. 6 S. 2 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen. [...]

2. Es besteht auch kein Anspruch nach der Altfallregelung des § 104 a AufenthG. Dabei geht das Gericht mit den Beteiligten davon aus, dass die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 der Bestimmung vorliegen.

Die Kläger haben am insoweit maßgeblichen Stichtag, dem 1. Juli 2007, zwar keine förmliche Duldung besessen. Ausreichend ist aber, dass gem. § 60 a Abs. 2 AufenthG ein Anspruch auf eine Duldung bestanden hat (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 30. September 2008 - 11 S 2088/08 - juris <Rn. 6>; Funke/Kaiser in: GK-AufenthG, Stand. April 2008, Rn. 8 zu § 104 a). Zu dem genannten Zeitpunkt stand ein Abschiebungstermin nicht fest (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - 1 C 3.97 - BVerwGE 105, 232 238>). Die Kläger haben sich seit dem 10. Mai 2007 auf die Nds. Bleiberechtsregelung und die Reiseunfähigkeit der Klägerin zu 1) berufen. Dies hat die Beklagte zunächst überprüft. Ab dem 25. September 2007 haben sie dann auch wieder förmliche Duldungen erhalten.

Auch haben sich die Kläger vom 1. Juli 1999 bis 1. Juli 2007 ununterbrochen mit einer Duldung, Aufenthaltsgestattung oder Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten. Zu den aufgeführten Aufenthaltserlaubnissen zählen auch Aufenthaltsbefugnisse nach dem AuslG, welche ebenfalls aus humanitären Gründen erteilt worden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 a.a.O., S. 77 f.). Die Kläger haben allerdings seit dem 11. September 2006 (Zustellung des Bescheides vom 8. September 2006, welcher zum Wegfall der sog. Weitergeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG geführt hat) zunächst sog. Grenzübertrittsbescheinigungen erhalten; eine förmliche Duldung ist erst am 25. September 2007 wieder erteilt worden. Nach der Rechtsprechung der Kammer (vgl. Urteil vom 22. August 2008 - 11 A 750/08 - ; auch: Funke/Kaiser a.a.O, Rn. 13) können in entsprechender Anwendung des § 85 AufenthG aber Zeiten, die die Dauer eines Jahres nicht überschreiten, unberücksichtigt bleiben. Dies erscheint hier gerechtfertigt. In der hier maßgeblichen Zeit bis zum 1. Juli 2007 war der Aufenthalt gut 10 1/2 Monate nicht förmlich geduldet. Die Kläger haben sich nicht der Kontrolle der Beklagten entzogen. Ihnen ist zunächst im Bescheid der Beklagten vom 8. September 2006 eine lange Ausreisefrist bis zum 31. März 2007 eingeräumt worden, die dann - entsprechend einer getroffenen Übereinkunft über die freiwillige Ausreise - zunächst bis Ende Mai 2007 verlängert worden ist. Die in diesem Zusammenhang erteilten sog. Grenzübertrittsbescheinigungen sind weiter verlängert worden, als die Beklagte den am 10. Mai 2007 gestellten Antrag der Kläger auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen überprüft hat. Nach den oben aufgeführten Grundsätzen hatten die Kläger seither einen Anspruch auf Erteilung von Duldungen.

Liegen die Voraussetzungen des § 104 a AufenthG vor, "soll" die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dies bedeutet, dass diese in der Regel zu erteilen ist und nur bei atypischen Umständen hiervon abgesehen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2005 - 1 C 18.04 - BVerwGE 124, 326 331>).

Nach dem nicht zweifelhaften Wortlaut wird die Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a AufenthG "abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1" AufenthG erteilt. Dies bedeutet, dass eine Sicherung des Lebensunterhalts nicht erforderlich ist. Nur in den Fällen, in denen ausreichende Einkünfte bestehen, wird die Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG erteilt (§ 104 a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Anderenfalls wird sie bis zum 31. Dezember 2009 "auf Probe" ausgestellt (§ 104 a Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung kann dann allerdings nur erfolgen, wenn der Lebensunterhalt zu diesem Zeitpunkt überwiegend eigenständig durch Erwerbstätigkeit gesichert war oder ab dem 1. April 2009 nicht nur vorübergehend eigenständig gesichert ist (§ 104 Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Nach § 104 a Abs. 5 Satz 3 AufenthG müssen dabei Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Lebensunterhalt überwiegend gesichert sein wird. Für Härtefälle bestehen in § 104 a Abs. 6 AufenthG Sonderregelungen.

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 203) ist vor diesem Hintergrund ein atypischer Fall anzunehmen, wenn bereits abzusehen ist, dass eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht erfolgen kann, also davon auszugehen ist, dass die "Probe" nicht bestanden wird.

Dies korrespondiert mit der gesetzgeberischen Absicht, dass auch die Altfallregelung eine dauerhafte Zuwanderung in die Sozialsysteme nicht ermöglichen soll (a.a.O., S. 202). Hieraus ergibt sich allerdings auch, dass bloße Zweifel nicht genügen, denn das System der Legalisierung nach § 104 a AufenthG ist gerade auf Probe angelegt. Eine negative Prognose ist deshalb nur in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt, in denen sicher ("feststeht") davon auszugehen ist, dass der Lebensunterhalt zum 31. Dezember 2009 nicht im erforderlichen Umfang gesichert sein und auch keiner der in § 104 a Abs. 6 AufenthG aufgeführten Härtefälle vorliegen wird (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 16. April 2008 - 11 S 100/08 - juris <Rn. 7>; Beschluss vom 29. Juli 2008 - 11 S 158/08 - juris, <Rn. 14>; Funke/Kaiser, a.a.O. Rn. 64). Auf ein Verschulden des Ausländers kommt es hierbei nach Auffassung der Kammer allerdings grundsätzlich nicht an. Der Gesetzgeber hat in § 104 a Abs. 5 und 6 die Lebensunterhaltssicherung und die Härtefälle, in denen hiervon abzusehen ist, abschließend geregelt (vgl. Funke/Kaiser a.a.O., Rn. 88; Albrecht in: Storr u.a., AufenthG, 2. Aufl. 2008, Rn. 38 zu § 104 a). § 104 a Abs. 6 Satz 2 AufenthG enthält nämlich keine Beispielsfälle, die durch einen Zusatz "insbesondere" gekennzeichnet worden wären, sondern eine abschließende katalogartige Aufzählung.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kann mit einer (überwiegenden) Lebensunterhaltssicherung der Kläger aus eigener Erwerbstätigkeit Ende 2009 nicht gerechnet werden; auch ein Härtefall im Sinne des § 104 a Abs. 6 AufenthG ist nicht ersichtlich. Die Kläger sind über 50 Jahre alt und leben seit 1994 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben die gesamte Zeit ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland Sozialleistungen in Anspruch genommen und sind nicht erwerbstätig gewesen. [...] Die Kläger haben zudem - wie auch die mündliche Verhandlung ergeben hat - nur einfache Kenntnisse der deutschen Sprache. Auch angesichts der sonst fehlenden Einbindung in den Arbeitsmarkt scheint es derzeit praktisch unmöglich, einen Arbeitsplatz zu erhalten. [...]

Ein Härtefall im Sinne des § 104 a Abs. 6 AufenthG wird nicht vorliegen. Nach Satz 2 Nr. 4 der Bestimmung ist auch bei erwerbsunfähigen Personen erforderlich, dass der Lebensunterhalt einschließlich einer erforderlichen Betreuung und Pflege in sonstiger Weise ohne Leistungen der öffentlichen Hand dauerhaft gesichert ist. Ein Verschulden der Betroffenen ist hierbei mithin ebenfalls unerheblich.

Liegt somit ein atypischer Fall vor, kann die Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich dennoch nach Ermessen erteilt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2005 a.a.O.; VGH Mannheim, Beschluss vom 29. Juli 2008 a.a.O., Rn. 7 und 15). Eine solche Entscheidung hat die Beklagte bisher zwar nicht ausdrücklich getroffen. Nach Maßgabe des Zweckes der Ermächtigung (§ 114 Satz 1 VwGO) ist das behördliche Ermessen jedoch hier in den atypischen Fällen dahingehend intendiert, den Antrag nach der Altfallregelung abzulehnen, so dass es im Regelfall - so auch hier - keiner besonderen behördlichen Erwägungen mehr bedarf (vgl. allgemein: BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1997 - 3 C 22.96 - BVerwGE 105, 55 57 f.>). Hierfür spricht bereits die schon angeführte Gesetzesbegründung, nach der in den Fällen, in denen absehbar keine Lebensunterhaltssicherung möglich sein wird, von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgesehen werden soll. Auch sind im Normalfall keine Erwägungen erkennbar, die zu Gunsten des Ausländers sprechen und mit der Zielsetzung des § 104 a AufenthG zu vereinbaren sind bzw. nicht schon bei der Beurteilung, ob ein atypischer Fall vorliegt, zu berücksichtigen wären. Ob ein Integrationsgespräch oder der Abschluss einer Integrationsvereinbarung (§ 104 a Abs. 4 AufenthG) förderlich sind (vgl. dazu VGH Mannheim, a.a.O.), ist bereits im Rahmen der zu treffenden Prognose über die künftige Lebensunterhaltssicherung zu untersuchen. Wenn - anders als hier - eine realistische Chance besteht, dass die genannten Maßnahmen zur Sicherung des Lebensunterhalts führen, ist nach den obigen (strengen) Grundsätzen mithin bereits die Annahme eines atypischen Falles ausgeschlossen. Auch ein fehlendes Verschulden der Betroffenen ist insoweit nicht zu berücksichtigen. Dies würde der bereits dargestellten gesetzgeberischen Intention, über die Altfallregelung abweichend von den in § 104 a Abs. 6 AufenthG abschließend aufgeführten Härtefällen keine Zuwanderung in die Sozialsysteme zu ermöglichen, zuwiderlaufen. Auch der lange rechtmäßige Aufenthalt der Kläger als Flüchtlinge kann insoweit keine Berücksichtigung finden. Die Altfallregelung dient nicht der Verlängerung von Aufenthaltsrechten aus anderen Gründen und soll keine zweite Chance zur Integration eröffnen. Der Grad der Verwurzelung ist nämlich bereits im Rahmen von Verlängerungsentscheidungen (hier: § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG) zu berücksichtigen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. November 2007 - 8 ME 108/07 - <juris>; OVG Münster, Beschluss vom 30. Juli 2008 - 18 B 602/08 - <juris>).