VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 27.11.2008 - 9 K 2856/06 - asyl.net: M14744
https://www.asyl.net/rsdb/M14744
Leitsatz:

Der Begriff der Ausreise i.S.v. § 11 Abs. 1 S. 4 AufenthG ist bei der gebotenen faktischen Betrachtung dahin zu verstehen, dass er nur das Verlassen des Bundesgebietes meint.

 

Schlagwörter: D (A), Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Ausreise, Fristbeginn, Europäische Union, Erledigung, Kosten, billiges Ermessen, Ausschreibung, Schengener Informationssystem, Löschung
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; AufenthG § 50 Abs. 4; VwGO § 161 Abs. 2; SDÜ Art. 110; SDÜ Art. 111 Abs. 1; SDÜ Art. 96 Abs. 1; SDÜ Art. 96 Abs. 3; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Der Begriff der Ausreise i.S.v. § 11 Abs. 1 S. 4 AufenthG ist bei der gebotenen faktischen Betrachtung dahin zu verstehen, dass er nur das Verlassen des Bundesgebietes meint.

(Amtlicher Leitsatz)

 

[...]

I. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

II. Im Übrigen ist die Klage, bei der es sich nach verständiger Würdigung des klägerischen Begehrens (§ 88 VwGO) um eine isolierte Anfechtungsklage handelt, zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind, soweit sie den Fristbeginn nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und damit den Eintritt der Befristungswirkung über das Verlassen des Bundesgebiets hinaus von weiteren Voraussetzungen abhängig machen, rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Kammer legt die Bestimmung im Ausgangsbescheid vom 02.05.2006, wonach der Eintritt der Befristungswirkung von einer nachgewiesenen Ausreise aus dem Gebiet der Europäischen Union und damit von einem ungewissen zukünftigen Ereignis abhängig gemacht wird, als Bedingung im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG aus. Gleiches gilt für die Bestimmung im Schriftsatz der Beklagten vom 13.02.2008, wonach die Befristungswirkung auch dann eintreten soll, wenn der Kläger in ein Land innerhalb der EU einreist und ihm Einreise und Aufenthalt dort erlaubt sind.

Für eine solche Bedingung gibt es keine Rechtsgrundlage. Insbesondere kann § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG hierfür nicht als Rechtsgrundlage herhalten. Nach dieser Vorschrift werden die Wirkungen der Ausweisung auf Antrag in der Regel befristet. Die Frist beginnt gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG mit der Ausreise. Die Beklagte legt den Begriff der Ausreise, der gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG maßgeblich für den Fristbeginn ist, in einer Weise aus, die mit dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzgebungsgeschichte sowie der Gesetzessystematik nicht vereinbar ist. Insbesondere kann der Begriff der Ausreise nicht unter Hinweis auf § 50 Abs. 4 AufenthG dahingehend normativ "aufgeladen" werden, dass eine Ausreise nur dann vorliege, wenn damit gleichzeitig die Ausreisepflicht erfüllt werde (a.A. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 11 Rn. 13). Dies verbietet sich schon deshalb, weil in den lapidaren Gesetzestext von § 11 Abs. 1 AufenthG nicht mehr an Regelungsgehalt hineingelegt werden darf, als den Vorstellungen des Gesetzgebers entspricht (vgl. OVG Hamburg, Beschluss v. 15.08.1991 - Az. Bs VII 67/91 -, InfAuslR 1992, 250, 252 zur alten Regelung in § 8 Abs. 2 AuslG). Die Begriffe "Ausreise" und "Ausreisepflicht" können gerade nicht gleichgesetzt werden.

1. Der Gesetzeswortlaut selbst spricht in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG lediglich von "Ausreise". Der Begriff der Ausreise, der im AufenthG nicht definiert wird, ist nach dem natürlichen Wortsinn dahin zu verstehen, dass er (nur) das Verlassen des Bundesgebietes meint (BayObLG, Beschl. v. 23.09.2004 - Az. 4St RR 113/04 -, AuAS 2005, 17 ff.). Damit kommt dem Ausreisebegriff des Aufenthaltsgesetzes ein rein faktischer Bedeutungsgehalt zu. Auch § 50 Abs. 2 AufenthG stellt insoweit lediglich auf das Verlassen des Bundesgebietes ab. Dass unter "Ausreise" etwas Tatsächliches zu verstehen ist, ergibt sich auch aus Ziffer 50.4.2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz. Dort heißt es, dass der Ausländer durch die nicht erlaubte Einreise in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zwar "tatsächlich ausgereist" sei, jedoch die "Ausreisepflicht" dadurch nicht erfüllt werde. Ein solch tatsächliches Verständnis des Ausreisebegriffs korrespondiert mit dem in § 13 AufenthG geregelten Begriff der "Einreise". Eine solche liegt nach dem klaren Gesetzeswortlaut (vgl. § 13 Abs. 2 Sätze 1 und 3 AufenthG) dann vor, wenn der Ausländer die Grenze überschritten hat.

2. Bereits die Vorschriften zum Ausländergesetz gehen von einer Unterscheidung von "Ausreise" und "Ausreisepflicht" aus (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 4 und § 42 Abs. 4 AuslG). Gemäß Ziffer 62.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz liegt eine Ausreise vor, "wenn der Ausländer Deutschland verlassen hat und in einen anderen Staat eingereist ist […] Außerhalb von zugelassenen Grenzübergangsstellen liegt eine Ausreise vor, wenn der Ausländer die Grenze überschritten hat, unabhängig davon, ob er legal oder illegal in den anderen Staat einreist. Begrifflich ist die Ausreise von der Erfüllung der Ausreisepflicht zu unterscheiden". Im Hinblick auf das Schengen-Regelwerk hat der Bundesgesetzgeber im Jahr 1990 eine dem heutigen § 50 Abs. 4 AufenthG entsprechende Regelung in § 42 Abs. 4 AuslG aufgenommen (s. Artikel 1 des Gesetzes vom 09.07.1990, BGBl. I S. 1354 ff.). Den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drs. 11/6321) kann allerdings nicht entnommen werden, dass mit dieser Vorschrift eine Änderung des Begriffs der Ausreise bezweckt wurde. Hätte der Gesetzgeber das faktische Verständnis des Ausreisebegriffs aufgeben oder relativieren wollen, wäre dies in den Materialien und auch im Gesetz selbst mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen. Insbesondere hätte es sich angeboten, in § 8 Abs. 2 AuslG auf § 42 Abs. 4 AuslG zu verweisen. Einen solchen Verweis enthält § 8 Abs. 2 AuslG aber ebenso wenig wie § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG.

3. Auch gesetzessystematisch wäre es verfehlt, unter dem Begriff der Ausreise in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG mehr als das tatsächliche Verlassen des Bundesgebietes zu verstehen. Ein rein faktischer Bedeutungsgehalt wird dem Begriff der Ausreise allgemein - auch seitens der Beklagten, wie deren Vertreterin in der mündlichen Verhandlung einräumte - in § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG zugeschrieben (vgl. Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 1. Aufl. 2008, § 60a Rn. 32). Danach erlischt die Aussetzung der Abschiebung mit der Ausreise des Ausländers. Ob mit dieser Ausreise auch die Ausreisepflicht gemäß § 50 Abs. 4 AufenthG erfüllt wird, ist insoweit für den Begriff der Ausreise unbeachtlich. Es wäre in gesetzessystematischer Hinsicht widersprüchlich, demselben Begriff der Ausreise in unterschiedlichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes erheblich voneinander abweichende Bedeutungen zuschreiben wollen.

4. § 50 Abs. 4 AufenthG behält auch bei Zugrundelegung eines rein tatsächlichen Verständnisses des Ausreisebegriffs einen originären Anwendungsbereich. Ein Ausländer, der illegal in einen anderen EU-Mitgliedsstaat ausreist, ist damit zwar im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgereist. Seine Ausreisepflicht hat ein solcher Ausländer mit der illegalen Einreise in den EU-Mitgliedsstaat aber nicht erfüllt. Reist der Ausländer anschließend ohne gültiges Visum wieder in das Bundesgebiet ein, besteht seine Ausreisepflicht unverändert fort. Die Ausreisepflicht könnte daher grundsätzlich mittels Abschiebung vollzogen werden, ohne dass es einer erneuten Ausweisungsverfügung oder Abschiebungsandrohung bedürfte (Hailbronner, AuslR, 45. Aktualisierung 2006, § 50 Rn. 30; Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 1. Aufl. 2008, § 50 Rn. 20; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Stand: 1997, § 42 Rn. 87; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 50 Rn. 15).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO. [...]

Der Kläger wäre auch mit seinem Begehren, seine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) zu löschen, erfolgreich gewesen. Nach Art. 110 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) hat jeder im SIS ausgeschriebene Drittausländer das Recht, auf seine Person bezogene unrichtige Daten berichtigen oder unrechtmäßig gespeicherte Daten löschen zu lassen. Dieser Anspruch kann gemäß Art. 111 Abs. 1 SDÜ auch durch Klage vor dem nach nationalem Recht zuständigen Gericht verfolgt werden. Anspruchsgegner ist die ausschreibende Stelle, da diese auch für die Löschung und Berichtigung von Daten zuständig ist.

Materielle Grundlage für die Speicherung von Daten im SIS und damit für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Datenspeicherung ist Art. 96 SDÜ. Nach Art. 96 Abs. 1 SDÜ werden die Daten bezüglich Drittausländern, die zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sind, aufgrund einer nationalen Ausschreibung gespeichert, die auf Entscheidungen der zuständigen Verwaltungsbehörden und Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind.

Welche Sachverhalte eine SIS-Ausschreibung rechtfertigen, ergibt sich im Einzelnen aus Art. 96 Abs. 2 und 3 SDÜ. Gemäß Abs. 3 der vorgenannten Bestimmung kann eine Ausschreibung darauf beruhen, dass der Drittausländer ausgewiesen, zurückgewiesen oder abgeschoben worden ist, wobei die entsprechende Maßnahme unter anderem ein Verbot der Einreise oder des Aufenthaltes enthalten muss. Mit dem Eintritt der Befristungswirkung, d.h. dem Wegfall der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, liegt ein solches Verbot der Einreise nicht mehr vor. Folgerichtig weist auch die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 18.04.2008 (Bl. 67 d.A.) darauf hin, dass bei Eintritt der Befristungswirkung sofort die Löschung aus dem SIS erfolgt. [...]