Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG, das wegen der lebensbedrohlich schlechten Versorgungslage in Afghanistan gewährt worden war, ist rechtmäßig. Zumindest in Kabul ist für einen zurückkehrenden alleinstehenden, gesunden jungen Tadschiken eine hinreichende Versorgung gegeben.
Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG, das wegen der lebensbedrohlich schlechten Versorgungslage in Afghanistan gewährt worden war, ist rechtmäßig. Zumindest in Kabul ist für einen zurückkehrenden alleinstehenden, gesunden jungen Tadschiken eine hinreichende Versorgung gegeben.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die Klage ist jedoch unbegründet. [...]
1. Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG) durch den Bescheid vom 28. Juni 2006 ist rechtmäßig. [...]
Bei der nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorzunehmenden Prognose einer Gefährdung des Klägers ist der Maßstab einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen. [...]
Im Rahmen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist zudem zu beachten, dass Gefahren in einem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, nach § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG regelmäßig nur im Rahmen der Entscheidung der obersten Landesbehörde über einen Abschiebestopp nach § 60a AufenthG Berücksichtigung finden. Eine verfassungskonforme Auslegung, in der ausnahmsweise aus einer allgemeinen Gefahr eine erhebliche konkrete Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hergeleitet wird, setzt voraus, dass anderenfalls der Ausländer gleichfalls sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05, BVerwGE 127, 33 - ständige Rechtsprechung). Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und die - freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende - Unmittelbarkeit eines Schadenseintrittes.
Eine solche extreme Gefahrenlage liegt für den Kläger als alleinstehenden gesunden Tadschiken bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls im Raum Kabul derzeit nicht vor (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 14.6.2002 - 1 Bf 38/02.A, 1 Bf 37/02.A; bestätigt durch Beschluss vom 24.10.2002 - 1 Bf 67.98.A, Urt. vom 22.11.2002 - 1 Bf 154/02.A, 1 Bf 155/02.A, 1 Bf 156/02.A, Urt. v. 11.4.2003 - 1 Bf 104/01.A; OVG Münster, Urt. v. 28.2.2008 - 20 A 2375/07.A; OVG Bautzen, Urt. v. 23.8.2006 - A 1 B 58/06; VGH Kassel, Urt. v. 7.2.2008 - 8 UE 1913/06.A; VG Ansbach, Urt. v. 26.11.2007 - AN 11 K 07.30671, alle juris):
Die Sicherheitslage im Raum Kabul ist aufgrund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufriedenstellend, wenn auch weiterhin fragil (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.3.2008). Sie wird vom United High Comissioner for Refugees (UNHCR) für freiwillige Rückkehrer im Wesentlichen als "ausreichend sicher" bezeichnet. Insoweit kommt es zwar insbesondere in Kabul zu Attentaten, Überfällen und Übergriffen. Diese sind jedoch in der Regel gegen Angehörige der ISAF-Truppen oder Repräsentanten staatlicher Organe, insbesondere der Polizei gerichtet. Hierbei sind auch Opfer in der Zivilbevölkerung zu beklagen. Dennoch erreichen die Auswirkungen von Attentaten, Übergriffen und Überfällen nicht eine Häufigkeit und Intensität, die gemessen an der Gesamtbevölkerung in diesem Gebiet, eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib und Leben des Klägers begründet.
Die allgemeinen Lebensbedingungen, insbesondere auch die Versorgungslage im Raum Kabul bieten für die Rückkehr eines alleinstehenden, gesunden, jungen afghanischen Tadschiken auch dann keinen Grund für die Annahme, alsbald schwerste Beeinträchtigungen erleiden zu müssen, wenn er - wie der Kläger - über keine weiteren Verwandten in Afghanistan verfügt. Zwar ist die Situation für Rückkehrer keinesfalls frei von Gefahren. Dies ist jedoch im Hinblick auf die oben dargestellten Anforderungen an allgemeine Gefahren nicht hinreichend. Insoweit wird auf die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 28. Februar 2008 (20 A 2375/07.A, Rn. 44 - 74, juris), die das Gericht teilt, ergänzend Bezug genommen. Hieran hält das Gericht auch unter Einbeziehung der neuesten Berichte über die Versorgungslage in Afghanistan (NZZ v. 6.3.2008, DPA in Pressespiegel Afghanistan AI - Mai 2008 - vom 6.3.2008, Focus vom 2.5.2008, DPA in Pressespiegel Afghanistan AI - August 2008 - vom 18.5.2008, 29.5.2008 und 13.6.2008) fest. [...] Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Urteil vom 6. Mai 2008 die Lage für einen zurückkehrenden jungen Mann anders beurteilt, liegt dies im Wesentlichen an dem Umstand, dass das Gericht dort davon ausgegangen ist, dass der Rückkehrer aus dem Volk der Hazara voraussichtlich keine Arbeit wird finden können. Dies hält das Gericht für den Kläger hingegen nicht für wahrscheinlich. Der Kläger ist Tadschike, hat vor seiner Ausreise aus Afghanistan die 12-jährige Schulzeit mit dem Abitur abgeschlossen und anschließend 1 ½ Jahre Medizin studiert. Im Bundesgebiet arbeitet er als Pizzabäcker und bereitet sich auf eine Prüfung als Taxifahrer vor. Er spricht Dari und ist gesund. Trotz der enormen Probleme auf dem Arbeitsmarkt dürfte es ihm aufgrund seiner Bildung und Flexibilität zumindest teilweise auch möglich sein, Gelegenheitsarbeiten zu finden.
Der Kläger wird auch nicht deshalb gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert, weil er den Verhältnissen seines Ursprungslandes durch seinen ca. 10 Jahre dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet entfremdet wäre. Der Kläger ist Ende 1998 aus Afghanistan ausgereist. Zu diesem Zeitpunkt war er 19 Jahre alt, hatte seine Schulausbildung abgeschlossen und war bereits im Studium. Er hält nach seinen eigenen Angaben telefonisch Kontakt zu seiner Familie in Pakistan, bewegt sich auch im Bundesgebiet in einem zumindest teilweise afghanisch geprägten Umfeld und spricht Dari. [...]
2. Dem Kläger steht kein Rechtsanspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3 oder 7 S. 2 AufenthG (nachfolgend a.), hilfsweise der Voraussetzungen des § 60 Abs. 4, 5 oder 7 Satz 1 AufenthG (nachfolgend b.) zu. [...]
Der Kläger ist bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort Kabul zudem keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ausgesetzt. Mit dieser Vorschrift hat der Bundesgesetzgeber die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 lit. c QRL ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzstatus" bzw. "subsidiären Schutzes" (vgl. Art. 15 - 18 und 24 QRL) aufgegriffen und in nationales Recht umgesetzt. Ein bewaffneter Konflikt begründet dabei ein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist. Bei der Auslegung, wann ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, ist Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht von 1949 und das zur Präzisierung erlassene Zusatzprotokoll II von 1977 zu berücksichtigen. Danach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt jedenfalls dann vor, wenn die Kampfhandlungen von einer Qualität sind, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind. Hingegen liegt ein bewaffneter Konflikt nicht vor, wenn lediglich innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen gegeben sind. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 lit. c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Zudem ist der Zweck der Schutzgewährung zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07, S. 13).
Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen ist der Kläger im Falle der Rückkehr nach Kabul, als seinem Herkunftsort keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines bewaffneten Konflikt i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ausgesetzt. Insoweit müssten die von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgehenden (allgemeinen) Gefahren jedenfalls eine solche Gefahrendichte aufweisen, dass alle Bewohner des betroffenen Gebietes hiervon ernsthaft persönlich (individuell) betroffen sind, oder individuelle Gründe für eine besondere Gefährdung gerade des Klägers sprechen. Hierbei sind allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge eines bewaffneten Konflikts sind - etwa eine Verschlechterung der Versorgungslage - nicht mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 S. 19; Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union - Drs. 16/5065 zu § 60 Abs. 7 AufenthG - S. 187). Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger bei einer Rückkehr nach Kabul keiner erheblichen individuellen Gefahr bzw. keiner ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt. Die Anschläge in Kabul treffen wie dargelegt ganz überwiegend Angehörige der Polizeikräfte sowie der internationalen Schutztruppen (AA vom 7.3.2008; vgl. ai Pressespiegel Afghanistan vom November 2007 und Februar 2008). Soweit Angehörige der Zivilbevölkerung unter den Opfern der Anschläge zu beklagen sind, ist deren Zahl gemessen an der Gesamtbevölkerung in Kabul gering. Eine Erhöhung der allgemeinen Gefahren für den Kläger als Tadschiken oder aus sonstigen individuellen Gründen ist nicht ersichtlich. [...]