VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 25.11.2008 - 14 K 4274/06.A - asyl.net: M14753
https://www.asyl.net/rsdb/M14753
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer alleinstehenden Afghanin wegen Gefahr der nichtstaatlichen Verfolgung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Hindus, Gruppenverfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Frauen, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Entführung, Vergewaltigung, Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Existenzminimum, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung einer alleinstehenden Afghanin wegen Gefahr der nichtstaatlichen Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragt; Ziff. 1 des angegriffenen Bescheides ist rechtmäßig (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Nach Art. 16a GG i.V.m. §§ 1 ff. AsylVfG könne nur politisch Verfolgte anerkannt werden, eine politische Verfolgung in diesem Sinne liegt aber nur dann vor, wenn die Verfolgung von einem Staat oder einem staatsähnlichem Gebilde ausgeht. In Afghanistan gibt es zur Zeit aber weder einen Staat noch ein staatsähnliches Gebilde, von dem eine politische Verfolgung ausgehen könnte (vgl. zum rechtlichen Ansatz BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, BVerwGE 114, 16, 20 ff. Zum derzeitigen Fehlen eines Staates oder eines staatsähnlichen Gebildes in Afghanistan vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2008 - 20 A 2300/06.A - , juris; VG Köln, Urteil vom 8. April 2008 - 14 K 4466/05.A - , ständige Rechtsprechung der 14. Kammer des VG Köln).

Die Klage ist hingegen begründet, soweit die Klägerin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt. [...]

Zwar droht der Klägerin aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit in Afghanistan keine politische Verfolgung. Nach der Rechtsprechung des OVG NRW - auf die Bezug genommen wird - drohte Hindus in Afghanistan jedenfalls in Kabul nämlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus religiösen Gründen (OVG NRW, Urteil vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A - juris).

Jedoch wäre die Klägerin bei Rückkehr durch nichtstaatliche Akteure eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgesetzt, durch die ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit oder ihre Freiheit bedroht wäre. Als alleinstehend zurückkehrende Frau und Mutter von drei Kindern droht ihr gerade als Frau in diesem Einzelfall eine konkret auf ihre Person bezogene geschlechtsspezifische Verfolgung. Denn nach islamischen Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Eine alleinstehende Frau in Afghanistan ohne männlichen Schutz wird allgemein als unsittliche Person betrachtet und ist "Freiwild" für die Männer ihrer Umgebung, und es besteht die große Gefahr, dass sie vergewaltigt und verschleppt und eventuell durch Misshandlungen zu Tode kommt, oder weil die Täter ihre Handlungen verbergen wollen. Alleinstehenden Frauen bleibt mitunter nur das Betteln oder die Prostitution, die allerdings streng verboten ist und das Risiko strafrechtlicher Verfolgung nach sich zieht. Vor allem ehemalige Kriegsfürsten und Kommandanten und ihre Gefolgsleute halten sich an alleinstehenden Frauen durch Entführung oder Zwangsverheiratung schadlos. So soll der in der östlichen Provinz Nangahar herrschende Kriegsherr Harat Ali als einer der größten Menschenrechtsverletzer im Osten Afghanistan seine Offiziere und Soldaten rauben, stehlen und eben auch Frauen entführen und vergewaltigen lassen. In der Region Herat, in der die Restriktionen für Frauen aus der Taliban-Zeit nach wie vor fortgelten, war eine erhebliche Zahl von Selbstverbrennungen von Frauen zu verzeichnen. Überwiegend handelte es sich dabei um aus dem Iran zurückgekehrte Flüchtlingsfrauen, von denen angenommen wird, dass sie sich vorwiegend aus Verzweiflung wegen Kinder- und Zwangsverheiratung selbst verbrannt haben. Im Übrigen hat eine alleinstehende Frau in Afghanistan - gerade als Frau - so gut wie keine Möglichkeit, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie - was hier allerdings nach den glaubhaften Angaben der Klägerin nicht der Fall ist - gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von eventuell noch existierenden Verwandten bekäme, dennoch vor dem Verhungern stünde. Denn Kabul und die andere Großstädte des Landes gehören durch den enormen Zustrom von Binnenflüchtlingen und die Anwesenheit der Hilfsorganisationen, die Mieten und andere Preise in astronomische Höhen treiben, inzwischen zu den teuersten Städten der Welt. Aufgrund der geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse hätte eine Frau auch keinerlei Aussicht, eine Wohnung zu finden oder sich unbehelligt zu bewegen. Abgesehen von den dargelegten Gefahren durch Diskriminierung, Misshandlung und sexuelle Übergriffe hat eine alleinstehende Frau in Afghanistan daher auch keine Existenzmöglichkeit (vgl. hierzu: AA, Lagebericht vom 07.03.2008, S. 18 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004; UNHCR, Update on the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 61; Home Office, Afghanistan Country Report, April 2005, Nr. 6.187 ff.; Hess VGH, Urteil vom 01.03.2006 - 8 UE 3766/04.A -, das zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde; vgl. zu alldem VG Köln, Urteil vom 9. April 2008 - 14 K 4466/05.A -).

Die in § 60 Abs. 1 Satz 4 lit c) AufenthG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen Frauen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Allein in Kabul sitzen zahlreiche Frauen im Gefängnis, die sich beispielsweise gegen eine arrangierte Ehe gewehrt, ihrem Ehemann nicht gehorcht oder außereheliche Beziehungen unterhalten haben. Für eine Verurteilung reicht in der Regel die Beschuldigung durch eine männliche Person aus; die Frauen haben keinerlei Möglichkeiten, sich gegen solche Anklagen zu verteidigen. Auch internationale Organisationen vermögen Frauen vor so genannter geschlechtsspezifischer Verfolgung - insbesondere Zwangsverheiratung und familiärer Gewalt - nicht wirksam zu schützen. Da diese Schutzlosigkeit für alle Teile des Landes gilt, kommt für die Klägerin die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht (vgl. hierzu: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29. November 2005, S. 28 ff.; UNHCR, Update on the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 52 ff.; Home Office, Afghanistan Country Report, April 2005, Nr. 6.167 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004; vgl. zu alldem VG Köln, Urteil vom 9. April 2008 - 14 K 4466/05.A -). [...]