Ein sorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch dann freizügigkeitsberechtigt, wenn die Kinder ihm keinen Unterhalt gewähren; § 4 S. 1 FreizügG/EU steht dem nicht entgegen, wenn die Erwerbstätigkeit des Elternteils bisher an der fehlenden Arbeitserlaubnis gescheitert ist.
Ein sorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch dann freizügigkeitsberechtigt, wenn die Kinder ihm keinen Unterhalt gewähren; § 4 S. 1 FreizügG/EU steht dem nicht entgegen, wenn die Erwerbstätigkeit des Elternteils bisher an der fehlenden Arbeitserlaubnis gescheitert ist.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU vom 30.7.2004, zuletzt geändert am 26.2.2008, BGBl. I S. 215) ist als Verpflichtungsklage zulässig und nach Maßgabe des § 113 Abs. 5 VwGO begründet. Denn die Versagung der Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht als freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU war rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. [...]
1. Die freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger, von denen der Kläger seine Freizügigkeit ableitet, sind seine minderjährigen Kinder ... und ..., die als französische Staatsangehörige Unionsbürger sind. Beide sind gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt gemäß § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU sind nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. [...]
2. Der Kläger ist als sorgeberechtigter Vater seiner minderjährigen Söhne auch Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Inzwischen ist durch den gemeinsamen Wohnsitz unstreitig, dass eine häusliche Gemeinschaft zwischen dem Vater, seinen Kindern und der Kindsmutter besteht. Zwar bezeichnet der Tatbestand dieser Norm ausdrücklich nur solche Verwandten in aufsteigender Linie als freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt. Unstreitig gewähren die minderjährigen Kinder ihrem Vater keinen Unterhalt. Nach Auffassung des Gerichts ist das Gesetz jedoch ergänzend dahingehend auszulegen, dass die Einschränkung der Unterhaltsgewährung nicht für minderjährige freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und deren sorgeberechtigte Verwandte in aufsteigender Linie, d.h. für deren sorgeberechtigte Elternteile, gelten kann. Zum einen gebietet schon der Inhalt des Freizügigkeitgesetzes/EU keine enge Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, zum anderen verstieße eine enge Auslegung gegen Gemeinschaftsrecht.
Erkennbar ging der Gesetzgeber bei der Fassung des § 3 Abs. 2 AufenthG von der Konstellation aus, dass der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger volljährig und erwerbstätig ist und hat deshalb den Nachzug von Verwandten in aufsteigender Linie beschränkt. Er hat jedoch an anderer Stelle gewürdigt, dass auch der nicht freizügigkeitsberechtigte Elternteil ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat besitzen muss, um die Personensorge für seine minderjährigen Kinder auszuüben. Daher hat der Gesetzgeber in § 3 Abs. 4 FreizügG/EU für den Fall des Todes oder Wegzugs des freizügigkeitsberechtigten Elternteils den Kindern und dem personensorgeberechtigten Elternteil bis zum Abschluss der Ausbildung der Kinder ein Aufenthaltsrecht eingeräumt. Aus dieser Vorschrift ist im Wege des Erst-Recht-Schlusses die Folgerung zu ziehen, dass bei gemeinsamer Ausübung der Personensorge der drittstaatsangehörige sorgeberechtigte Elternteil zur Wahrung der Familieneinheit auch dann ein Aufenthaltsrecht beanspruchen kann, wenn der andere Elternteil als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger in Deutschland lebt. Denn dass eine Trennung der gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile voneinander und von den minderjährigen Kindern nach der Konzeption des FreizügG/EU beabsichtigt ist, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.
Denn eine Auslegung des § 3 FreizügG/EU, die eine gemeinsame Personensorge für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger in einem Unionsstaat wie Deutschland verhindern würde, wäre mit dem in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutz der Familie nicht vereinbar. Zwar entspricht die Definition des Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU einschließlich des Unterhaltserfordernisses den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38/EWG (vom 29.4.2004, Amtsblatt der EU L 158/77), würdigt aber nicht die des Art. 3 Abs. 2 a dieser Richtlinie. Nach Art. 3 Abs. 2 a der Richtlinie 2004/38/EWG soll der Aufenthalt auch solcher Personen begünstigt werden, die zwar nicht der engen Definition des Art. 2 Nr. 2 d der Richtlinie 2004/38/EWG unterfallen, die jedoch im Heimatstaat mit den freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben. Im Ergebnis kann nichts anders gelten, wenn - wie hier - die freizügigkeitsberechtigten Personen im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurden und die häusliche Gemeinschaft daher ausschließlich hier gelebt wurde bzw. wird. Der Europäische Gerichtshof hat zur inhaltlich gleichlautenden Vorgängerrichtlinie 90/364/EWG in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen Unterhalt erhielt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.2002, Rechtssache Baumbast, InfAuslR 2002, 463, 466, Rn. 71 bis 75; Urt. v. 19.10.2004, Rechtssache Chen, InfAuslR 2004, 413, 415, Rn. 45 f.). Gegenüber der früheren Rechtslage nach Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 90/364/EWG hat sich diesbezüglich nichts geändert. Hieraus folgt aber zugleich, dass die zur Anwendung der letztgenannten Richtlinie ergangene Rechtsprechung des EuGH weiterhin Geltung beansprucht. Unter Durchbrechung der Voraussetzungen des Art. 1 der Richtlinie 90/364/EWG ermöglicht der EuGH auch dem für das Kleinkind tatsächlich sorgenden Elternteil unmittelbar aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit ein Aufenthaltsrecht. Im Urteil des EuGH vom 19. Oktober 2004 (a.a.O. RdNr. 45) wird hierzu ausgeführt: "Würde aber dem Elternteil mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats oder eines Drittstaats, der für ein Kind, dem Art. 18 EGV und die Richtlinie 90/364 ein Aufenthaltsrecht zuerkennen, tatsächlich sorgt, nicht erlaubt, sich mit diesem Kind im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, so würde dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen. Offenkundig setzt nämlich der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedsstaat zu wohnen."
Diese für die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts verbindliche Rechtsprechung des EuGH führt dazu, dass die Beklagte die Freizügigkeitberechtigung des Klägers abweichend vom Wortlaut des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU nicht davon abhängig machen kann, dass ihm Unterhalt von seinen Kindern gewährt wird (ebenso in vergleichbaren Fällen: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.1.2007, 13 S 451/06, InfAuslR 2007, 182 ff. und in juris; VG München, Urteil vom 27.9.2007, M 10 K 06.1564, juris; offen gelassen vom BVerwG, Urteil vom 23.10.2007, 1 C 10/07, juris). Nach Auffassung des Gerichts gilt diese Rechtsprechung auch dann, wenn beide Elternteile - wie hier - effektiv für das betreffende Kleinkind sorgen und von denen nur ein Elternteil das Kind finanziell unterstützt (vgl. auch HmbOVG, Beschluss vom 6.3.2008, 3 Bs 281/07). Inwieweit der personensorgeberechtigte Familienangehörige darüber hinaus die Anforderungen des § 4 FreizügG/EU erfüllen muss, um die öffentlichen Kassen des Aufnahmemitgliedsstaates nicht übermäßig zu belasten, darf nach Auffassung des Gerichts nicht die Definition des Familienangehörigen beeinflussen, sondern ist als zusätzliches Tatbestandsmerkmal der Freizügigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 4 FreizügG/EU zu prüfen (unter 3 a.).
3. Auch aus anderen Gründen darf dem Kläger die Aufenthaltserlaubnis/EU nicht versagt werden, weder im Hinblick auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 FreizügG/EU (a.), noch im Hinblick auf ein Einreiseverbot nach § 6 FreizügG/EU (b.), die ergänzend heranzuziehenden Voraussetzungen nach dem AufenthG (c.) oder wegen eines Visumsverstoßes (d.).
a) Die Anforderungen des § 4 Satz 1 FreizügG/EU dürfen nach Auffassung des Gerichts nur unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freizügigkeitsrechts des stammberechtigten Unionsbürgers gestellt werden. Die Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen darf die Ausübung der Freizügigkeit des Kleinkinds nicht unverhältnismäßig einschränken. Der Kläger hat zwar bislang keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Existenzmittel nachgewiesen. [...] Dieser Umstand führt dazu, dass bei der anzustellenden Prognose sowohl ein ausreichender Krankenversicherungsschutz - der mit Aufnahme der Erwerbstätigkeit eintritt - als auch das Vorliegen ausreichender Existenzmittel zu bejahen sind. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beklagte es, wie oben bereits ausgeführt, mit zu verantworten hat, dass der Kläger bislang keine Beschäftigung aufnehmen konnte (ebenso in einem Parallelfall VG München, Urteil vom 27.9.2007, a.a.O.). Diesbezüglich ist unerheblich, welche Behörde innerhalb der beklagten Freien und Hansestadt Hamburg für die Erteilung von Arbeitserlaubnissen zuständig ist, denn der Kläger hat alles getan, um als Erwerbstätiger die Personensorge für seine fünf- und dreijährigen freizügigkeitsberechtigten Kinder auszuüben und ihnen Unterhalt zu gewähren. [...] Angesichts dessen und im Hinblick auf die praktische Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts der auf die väterliche Sorge angewiesenen Kinder ist es nach Auffassung des Gerichts rechtswidrig, dem Kläger ein Aufenthaltsrecht zu verweigern, weil zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen des § 4 Satz 1 FreizügG/EU noch nicht erfüllt waren. Mit Erhalt einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis/EU mit Arbeitserlaubnis werden sich die Chancen des Klägers, ins Erwerbsleben einzusteigen, deutlich verbessern. Das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen kann von der Beklagten auch nachträglich nach § 5 Abs. 4 AufenthG überprüft werden um Sorge zu tragen, dass der Kläger seine Arbeitswilligkeit unter Beweis stellt.
b) Dem Kläger kann auch nicht im Hinblick auf die vorausgegangene Identitätstäuschung das Recht auf Aufenthalt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 FreizügG/EU versagt werden. Nach dieser Vorschrift kann sowohl die Einreise verweigert oder auch ein bestehendes Aufenthaltsrecht entzogen werden, wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder Gesundheit dies gebieten. Nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU dürfen auch strafrechtliche Verurteilungen nur dann herangezogen werden, wenn sich aus ihnen eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ergibt. Eine solche ist im Falle des nicht strafrechtlich verurteilten oder ausgewiesenen Klägers nicht gegeben. Zwar hat sich der Kläger durch die Identitätstäuschung im Asylverfahren nach § 271 StGB über einen längeren Zeitraum wegen eines Urkundsdelikts strafbar gemacht. Daraus ergibt sich jedoch keine gegenwärtige Gefährdung öffentlicher Interessen. Denn inzwischen hat er seine wahre Identität aufgedeckt und seinen Pass vorgelegt, so dass keine Wiederholungsgefahr besteht. [...]
c) Im Rahmen der Prüfung, ob eine Aufenthaltserlaubnis/EU zu erteilen ist, finden gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nur einzelne Normen des Aufenthaltsgesetzes Anwendung. Die Vorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wonach als „offensichtlich unbegründet“ nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnten Asylbewerbern grundsätzlich nur nach vorheriger Ausreise eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, gehört nicht dazu, so dass die Prüfung dieser Norm entbehrlich ist.
d) Das Gericht ist auch nicht der Auffassung, dass wegen des fehlenden Einreisevisums zum Zwecke der Familienzusammenführung dem Kläger der Aufenthaltstitel/EU versagt werden könnte. [...] Ob ein solches Visumsverfahren nach Gemeinschaftsrecht dann entbehrlich ist, wenn der Familienangehörige sich bereits im Aufnahmestaat aufhält, kann dahinstehen. Denn auch bei Anwendung des nationalen Aufenthaltsrechts wäre der Kläger zur Durchführung des Visumsverfahrens nach § 39 Nr. 5 AufenthV nicht verpflichtet, da seine Abschiebung nach § 60 a AufenthG ausgesetzt war, als er durch die Geburt seiner Kinder den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erwarb.
[...]