Merkliste
Zitieren als:
, Bescheid vom 07.11.2008 - unbekannt - asyl.net: M14786
https://www.asyl.net/rsdb/M14786
Leitsatz:
Schlagwörter: Albanien, Folgeantrag, Ehrenmord, Frauen, Zwangsheirat, Familienehre, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens wird abgelehnt. [...]

Die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Soweit sich die Antragstellerin darauf beruft, im Falle einer Rückkehr nach Albanien befürchte sie, seitens ihres Vaters oder ihres "Ehemannes" einem Ehrenmord zum Opfer zu fallen, ist vorab festzustellen, dass eine politische Verfolgung nach § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG sowohl vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (staatsähnliche Akteure, allerdings auch von nichtstaatlichen Akteuren), ausgehen kann.

Geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus, ist zu prüfen, ob staatliche oder staatsähnliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz zu gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Ein Schutz ist gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Verfolgungshandlungen und der Betroffene Zugang zu diesem Schutz hat. Von einer Schutzversagung des Staates kann nicht schon dann ausgegangen werden, wenn ein lückenloser Schutz vor politisch motivierten Übergriffen durch nichtstaatliche Stellen oder Einzelpersonen fehlt. Es entspricht vielmehr den Anforderungen wie auch der bisherigen ständigen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, dass die Anforderungen an eine effektive Schutzgewährung im konkreten Einzelfall nicht überzogen werden dürfen. Die Forderung nach einem lückenlosen Schutz ginge in Bezug auf politisch motivierte Ausschreitungen nichtstaatlicher Dritter nicht anders als in Bezug auf Übergriffe allgemeiner, z.B. krimineller Art an einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Effizienz staatlicher Schutzmöglichkeiten vorbei (vgl. die insoweit auf die Neuregelung des Ausländer- und Asylrechts vom 30.07.2004 übertragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 03.12.1985, BVerwGE 72, 269 und 18.02.1986, BVerwGE 74, 41).

Eine Zuerkennung von Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG kann somit auch dann ausgeschlossen sein, wenn Übergriffe zwar im Einzelfall nicht verhindert werden können, die in § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannten Schutzakteure jedoch geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern. Vergleichbares gilt für die Schutzgewährung durch quasistaatliche Parteien oder Organisationen i. S. des § 60 Abs. 1 Satz 4 b AufenthG.

Der albanische Staat lehnt Blutrachetaten- und Ehrenmorde ab und bekämpft sie und kann auch Schutz vor ihr gewähren, auf Grund seiner begrenzten Kapazitäten jedoch nur mit eingeschränktem Erfolg, zumal sich einige Nichtregierungsorganisationen um die Schlichtung von Blutrachefehden bemühen, so dass vorliegend von einer nichtstaatlichen Verfolgung nicht ausgegangen werden kann.

2. Es liegen jedoch Wiederaufgreifensgründe vor, die eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG auch rechtfertigen. [...]

Die für den Folgeantrag angegebene Begründung führt zu einer für die Antragstellerin günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vorn Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Albanien auszugehen ist. [...]

Soweit die Antragstellerin befürchtet, bei einer Rückkehr nach Albanien einem Ehrenmord seitens ihres Vaters oder ihres "Ehemannes" zum Opfer zu fallen, wird auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 31.07.2007 (Az.: ...) verwiesen, wonach Verheiratungen minderjähriger bzw. auch schon volljähriger Töchter gegen ihren Willen mit älteren Männern in Albanien durchaus vorkommt, und zwar in erster Linie in ländlichen Gebieten. Religiöse Zugehörigkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle. In einem städtischen Umfeld, zum Beispiel in Tirana, ist dies zwar unwahrscheinlicher, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, da dort ein Großteil der Bevölkerung aus Migranten besteht, die sich seit Beginn des Transformationsprozesses in den Städten angesiedelt haben, weitestgehend untereinander bleiben und ggf. an überkommenden Verhaltensmustern festhalten. Wahrscheinlich ist die Konsequenz für Töchter, die sich weigern, dem Wunsch ihrer Eltern zu folgen (vorliegend ist die Antragstellerin vor Vollziehung der offiziellen Eheschließung aus Albanien geflüchtet), der Ausschluss aus der Familie mit den entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Es kommt auch zu Ehrenmorden. Motive sind dabei die Wahrung der Familienehre und die Beseitigung der Schande, die angeblich durch das Verhalten der jungen Frauen über die Familie gebracht wurde. Eine inländische Fluchtalternative ist für die betroffenen Frauen nur in sehr eingeschränktem Maße gegeben. Für Frauen aus ländlichen Gebieten ist zum Beispiel ein Untertauchen in den Städten des Landes theoretisch möglich, auf Grund der geringen Größe des Landes ist jedoch die Gefahr, entdeckt zu werden, ungleich groß. Einer mittellosen, 18-jährigen traumatisierten Frau dürfte es nur in Ausnahmefällen gelingen, eine sichere Zuflucht und eine ausreichende Lebensgrundlage finden zu können. Insgesamt gibt es in Albanien nur drei Frauenhäuser (Shelters), die von Nichtregierungsorganisationen betrieben werden und deren Aufnahmekapazitäten begrenzt sind. In diesen Einrichtungen werden Opfern, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, ein psychologischer Beratungsdienst (Counseling Service) angeboten. Die Möglichkeiten für eine weitere medizinische Behandlung sind auf Grund der Defizite des albanischen Gesundheitssystems, insbesondere im Bereich der Psychiatrie, äußerst begrenzt.

Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen kann zum einen nicht mit der hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr nach Albanien tatsächlich einem Ehrenmord zum Opfer fallen wird, zum anderen bestünde auch nicht die Möglichkeit, die ihr attestierte posttraumatische Belastungsstörung adäquat in Albanien behandeln lassen zu können, so dass bei ihr ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen war. [...]