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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2008 - 2 BvR 1438/07 - asyl.net: M14787
https://www.asyl.net/rsdb/M14787
Leitsatz:

Eine einstweilige Anordnung der Freiheitsentziehung gemäß §,11 Abs.,1 FreihEntzG setzt zwingend den Antrag auf die endgültige Haftanordnung voraus; andernfalls ist die einstweilige Anordnung rechtswidrig, auch wenn die materiellen Voraussetzungen der Haft vorliegen.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Freiheit der Person, einstweilige Anordnung, Freiheitsentziehung, Haftanordnung, Antrag, Ausländerbehörde, Sachaufklärungspflicht, Verfahrensfehler, Heilung
Normen: AufenthG § 62; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 104 Abs. 1; FreihEntzG § 11 Abs. 1; BVerfGG § 93c Abs. 1
Auszüge:

Eine einstweilige Anordnung der Freiheitsentziehung gemäß §,11 Abs.,1 FreihEntzG setzt zwingend den Antrag auf die endgültige Haftanordnung voraus; andernfalls ist die einstweilige Anordnung rechtswidrig, auch wenn die materiellen Voraussetzungen der Haft vorliegen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Dies ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigem Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <,322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 94, 166 <198>; 96, 10 <21>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellne Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenen freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>).

§ 11 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG enthält eine Verfahrensgarantie, die nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG von Verfassungs wegen zu beachten ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2008 - 2 BvR 1925/04 -, juris). Die Regelung setzt für die einstweilige Anordnung einer Freiheitsentziehung unter anderem voraus, dass ein ordnungsgemäßer Antrag auf Erlass einer - endgültigen - Haftanordnung durch die zuständige Verwaltungsbehörde gestellt worden ist (vgl. Marschner, in: Marschner/Volckart, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Aufl. 2001, § 11 FreihEntzG Rn. 2). Nach dieser Regelung dürfen vorläufige Entscheidungen über die Freiheitsentziehung nur getroffen werden, wenn das Gericht bereits mit dem Verfahren in der Hauptsache befasst ist, sodass ihm auch für die Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung die notwendigen Unterlagen vorliegen. Nur so wird es dem Gericht ermöglicht, seine Entscheidung über die Dauer der einstweiligen Freiheitsentziehung an die Umstände anzupassen, die dazu führen, dass zunächst eine einstweilige Anordnung notwendig wird und die endgültige Haftentscheidung noch nicht getroffen werden kann.

2. Den sich aus diesen Maßstäben ergebenen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.

Das Oberlandesgericht verkennt Tragweite und Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bereits deshalb, weil es die (vorläufige) Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers ohne Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft in der Hauptsache für rechtmäßig erachtet. Die Ausführungen zur Unschädlichkeit von Verfahrens- und Formvorschriften bei Erfüllung der materiellen Haftvoraussetzungen stehen nicht im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Bedeutung, die der Regelung des § 11 Abs. 1 FreihEntzG über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zukommt. Der Verstoß gegen diese Vorschrift kann insbesondere nicht mit der Argumentation für unbeachtlich erklärt werden, die einstweilige Freiheitsentziehung sei materiell zu Recht angeordnet worden. Eine solche hypothetische Betrachtungsweise widerspricht dem Gesetzeswortlaut des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und findet in den Vorschriften des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehung keinen Anhalt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2008 - 2 BvR 1925/04 -, juris). [...]