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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 03.12.2008 - 1 C 35.07 - asyl.net: M14790
https://www.asyl.net/rsdb/M14790
Leitsatz:

1. Auf eine unter Geltung der Richtlinie 64/221/EWG verfügte und mit der Klage angegriffene Ausweisung ist die Unionsbürgerrichtlinie nicht anwendbar (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007, Rs. Polat).

2. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG schließt die Ausweisung eines Ausländers nicht aus, der durch sein persönliches Verhalten, wenn auch krankheitsbedingt, die öffentliche Ordnung konkret und hinreichend schwer gefährdet.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Familienangehörige, Erlöschen, freiwillige Ausreise, Unionsbürgerrichtlinie, Altfälle, Beurteilungszeitpunkt, EuGH, Gefahr für die öffentliche Ordnung, Krankheit, Straftat, Ermessensausweisung, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr
Normen: RL 2004/83/EG Art. 28 Abs. 3; ARB Nr. 1/80 Art. 7; RL 64/221/EWG Art. 4 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 29; AufenthG § 55; AufenthG § 56
Auszüge:

1. Auf eine unter Geltung der Richtlinie 64/221/EWG verfügte und mit der Klage angegriffene Ausweisung ist die Unionsbürgerrichtlinie nicht anwendbar (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007, Rs. Polat).

2. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG schließt die Ausweisung eines Ausländers nicht aus, der durch sein persönliches Verhalten, wenn auch krankheitsbedingt, die öffentliche Ordnung konkret und hinreichend schwer gefährdet.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). [...]

1. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Ausweisung des Klägers wegen Verstoßes gegen Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - rechtswidrig ist. Da es sich - so das Berufungsgericht - beim Kläger um einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen handele, könne er sich auf den Ausweisungsschutz nach dieser Bestimmung berufen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) sei der für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger geltende gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz "soweit wie möglich" auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige zu übertragen; die in der Unionsbürgerrichtlinie geregelten Voraussetzungen für eine Ausweisung lägen im Falle des Klägers jedoch nicht vor.

Ungeachtet der Frage, ob der Kläger sich tatsächlich auf eine assoziationsrechtliche Rechtsprechung berufen kann (dazu unter 2.), ist die am 30. April 2006 in Kraft getretene Unionsbürgerrichtlinie auf die hier streitige, im Oktober 2003 verfügte und im Februar 2004 mit der Klage angegriffene Ausweisung des Klägers nicht anwendbar.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz. Dies gilt für türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben, - ebenso für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger - schon aufgrund der Rechtsprechung des Senats aus dem Jahr 2004 (vgl. Urteile vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 und 29.02 - BVerwGE 121, 297 und 315) und ist inzwischen durch das Richtlinienumsetzungsgesetz mit Wirkung vom 28. August 2007 auch auf alle übrigen Ausländer erstreckt worden (vgl. Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 <22 ff.> = Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 7 S. 3 f. m.w.N.) Die Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts für die gerichtliche Überprüfung hat der Senat aus einer Gesamtschau der materiellrechtlichen Vorgaben für die Ausweisung hergeleitet. Dieser Ansatz schließt es indes nicht aus, dass ausnahmsweise hinsichtlich einzelner Voraussetzungen für die Ausweisung auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen ist, wenn dies aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist. Ein solcher Fall liegt hier in Bezug auf die Abgrenzung des zeitlichen Geltungsbereichs der Unionsbürgerrichtlinie und der (Vorgänger-)Richtlinie 64/221/EWG vor. Hierzu hat der EuGH verbindlich entschieden, dass bei einer Ausweisung, die noch unter Geltung der erst mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehobenen Richtlinie (Art. 38 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie) verfügt und mit der Klage angegriffen worden ist, diese Richtlinie und nicht die Unionsbürgerrichtlinie anwendbar ist (Urteil vom 4. Oktober 2007 - C-349/06 - Rs. Polat, InfAuslR 2007, 425 <427>; vgl. auch zur Maßgeblichkeit der früheren Rechtslage bei Verstoß gegen Verfahrensgarantien der Richtlinie 64/221/EWG: Senatsurteil vom 9. August 2007 - BVerwG 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 <170 ff.> = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 49 S. 14 ff. m.w.N.). Die Ausweisung kann daher nicht mit der vom Berufungsgericht angeführten Begründung als rechtswidrig angesehen werden. Ebenso wenig stellt sich damit im vorliegenden Verfahren die von den Beteiligten und der obergerichtlichen Rechtsprechung kontrovers beurteilte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage, ob und inwieweit Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Anwendung findet (vgl. das Vorabentscheidungsersuchen des VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Juli 2008 - 13 S 1917/07 - juris).

2. Der Senat kann über die Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht selbst abschließend entscheiden, so dass die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist. [...]

a) Das Berufungsgericht hat eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 bejaht, ohne nähere Feststellungen zum Erwerb einer derartigen Rechtsposition zu treffen. Auch zu einem etwaigen Verlust der Rechtsposition fehlen im Berufungsurteil verlässliche Feststellungen und tragfähige Erwägungen. Die Feststellung im Tatbestand der Entscheidung, der Kläger habe sich bis zu seiner Abschiebung in Deutschland aufgehalten, ist aktenwidrig und für das Revisionsgericht nicht bindend (vgl. Urteil vom 19. Januar 1987 - BVerwG 9 C 247.86 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 28 S. 5). Denn in der Ausländerakte des Beklagten finden sich Hinweise, dass der Kläger 1998 in die Türkei ausgereist ist, um sich dort in seinem heimischen Kulturkreis sozial zu "reintegrieren", und für etwa sechs Monate bei einer Tante gelebt hat (vgl. Bl. 202 der Akte). Auch der Beklagte ist in seiner Ausweisungsverfügung davon ausgegangen, dass der Kläger mehrere Monate bei einer Tante in der Türkei verbracht hat (S. 7 der Verfügung). Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird das Berufungsgericht dieser Frage nachgehen und gegebenenfalls klären müssen, unter welchen Umständen der Kläger damals ausgereist ist. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH und des Senats kann ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 u.a. verloren gehen, wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. Senatsurteil vom 9. August 2007 - BVerwG 1 C 47.06 - a.a.O. m.w.N.).

b) Besitzt der Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, wird das Berufungsgericht im Hinblick auf Art. 4 der Richtlinie 64/221/EWG zu klären haben, ob bzw. welche Gefahren für die öffentliche Ordnung gegenwärtig vom Kläger ausgehen. Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie rechtfertigt das Auftreten von Krankheiten nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet nicht. Dies gilt nach Anhang B der Richtlinie auch für Krankheiten wie die des Klägers. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jedes Verhalten eines Ausländers, das auf eine Krankheit zurückgeht, eine Ausweisung ausschließt. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie normiert bei Krankheiten kein absolutes Ausweisungsverbot. Der Regelungsgehalt geht vielmehr dahin, dass Krankheiten in ihrer abstrakten Gefährlichkeit eine Ausweisung ausschließen. Gefährdet der Ausländer dagegen durch sein persönliches Verhalten, wenn auch krankheitsbedingt, die öffentliche Ordnung konkret und hinreichend schwer, steht die Vorschrift einer Ausweisung nicht entgegen (vgl. auch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie; vgl. ferner Senatsurteil vom 5. November 1968 - BVerwG 1 C 58.67 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 25 sowie VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juli 2004 - 11 S 535/04 - juris). Für diese einschränkende Auslegung des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG spricht auch die Fassung der Nachfolgeregelung in Art. 29 der Unionsbürgerrichtlinie, die einen Bezug zu Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht mehr aufweist, mit der der Normgeber aber keine wesentlichen Änderungen gegenüber der alten Rechtslage vornehmen wollte (vgl. etwa die Entwurfsbegründung der Kommission zu Art. 27 der Unionsbürgerrichtlinie vom 23. Mai 2001, KOM <2001> 257 S. 22 f.).

Das Berufungsgericht wird daher zu klären haben, ob vom Kläger derzeit eine konkrete und hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Ordnung ausgeht. Nur in diesem Falle ist die Ausweisung des Klägers im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG gerechtfertigt.

c) Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Auch nach innerstaatlichem Recht fehlt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung an der Klärung, unter welchen Umständen der Kläger 1998 ausgereist ist, sowie an einer aktuellen Gefahrenprognose. [...]

Aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG für eine Ermessensausweisung vor. [...]

Genießt der Kläger besonderen Ausweisungsschutz, kann er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Bei einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung - wie hier - sind hierfür erforderlich ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht, welches sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt, sowie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. etwa Senatsurteil vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54). Diese konkreten Anhaltspunkte müssen im Zeitpunkt der (erneuten) Entscheidung des Berufungsgerichts bestehen (Senatsurteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - a.a.O.). Das Berufungsgericht hat daher festzustellen, in welcher gesundheitlichen Verfassung sich der Kläger inzwischen befindet und ob sich das Krankheitsbild tatsächlich, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht geschildert, verbessert hat. Ohne eine weitere Sachverhaltsaufklärung kann im Übrigen auch nicht beurteilt werden, ob die Ausweisung nach innerstaatlichem Recht - auch hier bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - verhältnismäßig und frei von Ermessensfehlern ist. [...]