LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.01.2009 - L 11 AY 118/08 ER - asyl.net: M14798
https://www.asyl.net/rsdb/M14798
Leitsatz:

In der Regel sind Zeiten des Bezugs von Leistungen nach BSHG oder SGB II nicht auf die 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzurechnen (Änderung der Rspr. des Senats); ob ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Gründen etwas anderes gilt, ist der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Übergangsregelung, Altfälle, Aufenthaltsdauer, 48-Monats-Frist, BSHG, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Verfassungsmäßigkeit, Sozialhilfebezug
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

In der Regel sind Zeiten des Bezugs von Leistungen nach BSHG oder SGB II nicht auf die 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzurechnen (Änderung der Rspr. des Senats); ob ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Gründen etwas anderes gilt, ist der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Hannover ist aufzuheben, weil die Antragstellerin keinen Anspruch darauf hat, dass ihr im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Leistungen nach § 2 AsylbLG zugesprochen werden. [...]

Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angezeigten summarischen Prüfung hat die Antragstellerin den geltend gemachten Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit den Regelungen des SGB XII nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

Vorliegend ist § 2 Abs. 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Artikel 6 Abs. 2 Nr. 2, BGBl. I 1970, 2007) anzuwenden. Mangels Übergangsvorschrift ist das Gesetz am Tag nach der Verkündung des Gesetzes am 28. August 2007 in Kraft getreten (Artikel 10 Abs. 1, BGBl. I 1970; 2114). [...]

Die Antragstellerin unterfällt dem Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, da sie zur Zeit geduldet wird. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragstellerin die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. [...]

Streitentscheidend ist deshalb allein, ob die Antragstellerin die seit dem 28. August 2007 maßgebende zeitliche Voraussetzung des 48-monatigen Bezugs von Leistungen "nach § 3 AsylbLG" erfüllen. Die Antragstellerin hat noch nicht über einen Zeitraum von 48 Monaten Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG bezogen, da ihr diese Leistungen erst ab dem 1. Dezember 2005 bewilligt worden sind, so dass ein 48-monatiger Bezug erst ab dem 1. Dezember 2009 vorliegen wird. In der Zeit zuvor seit dem 21. Februar 1992 hatte die Antragstellerin nicht Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen, sondern Leistungen nach dem BSHG bzw. ab dem 1. Januar 2005 nach dem SGB II. In der Zeit vom 21. Februar 1992 bis zum 30. Oktober 1993 konnte die Antragstellerin auch noch keine Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, weil dieses Gesetz erst zum 1. November 1993 in Kraft getreten ist, zuvor war die Vorschrift des § 120 BSHG einschlägig. Auch in der Folgezeit ab dem 1. November 1993 hatte die Antragstellerin einen Anspruch auf Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG und nicht nur auf Leistungen nach § 3 AsylbLG, weil nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG (in der vom 1. November 1993 bis 31. Mai 1997 gültig gewesenen Fassung) das BSHG entsprechend anzuwenden war, wenn über einen Asylantrag zwölf Monate nach Antragstellung (hier am 9. Januar 1992) noch nicht unanfechtbar entschieden war. Nach der Anerkennung als Asylberechtigte durch Bescheid vom 28. April 1995 bestand ein originärer Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG.

Soweit es um die Frage geht, ob bei der Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylbLG auch Zeiten berücksichtigt werden können, in denen Leistungen nach dem BSHG, dem SGB II oder gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG bezogen wurden, hält der erkennende Senat in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen der Senat bisher auch nur Entscheidungen getroffen hat, nach Vorliegen der Gründe des Urteils des BSG vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R - seit dem 11. September 2008 nicht mehr fest.

Bisher hat der Senat eine Anrechnung von Zeiten des Bezugs von Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG, BSHG und SGB II auf die Vorbezugszeit gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG für rechtens erachtet. Zu diesem Ergebnis ist der Senat nach summarischer Prüfung auf der Grundlage einer einfachgesetzlichen Auslegung unter Berücksichtigung des in den Gesetzesmaterialien genannten Zweckes gekommen, namentlich eine bessere soziale Integration nach einem vierjährigen Voraufenthalt in der Bundesrepublik anzuerkennen (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 18. März 2008, Az.: L 11 AY 82/07 ER in juris; zu der seit dem 28. August 2007 gültigen Rechtslage). Dieser Rechtsprechung ist das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R - nicht gefolgt. Danach können bei der Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylbLG nur solche Zeiten berücksichtigt werden, in denen tatsächlich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bezogen worden sind; der Bezug von Sozialleistungen aufgrund anderer Vorschriften ist demnach nicht berücksichtigungsfähig. Dieses Ergebnis begründet das BSG im Wege der einfachgesetzlichen, historischen Auslegung von § 2 AsylbLG (Rn. 19 bis 24 der Urteilsgründe). Im Übrigen hat das BSG gegen die ab dem 28. August 2007 geltende Neuregelung (ohne Übergangsregelung) keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben (Rn. 25 bis 30 der Urteilsgründe).

Der erkennende Senat hält daher in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes an seiner bisherigen Rechtsprechung (a.a.O.) nicht mehr fest. In aller Regel werden verfassungsrechtliche Zweifel gegen die Neuregelung und die durch das BSG gefundene Interpretation der Vorschrift nicht zu begründen sein (vgl. dazu auch Hachmann/Hohm; Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher EU-Richtlinien, NVwZ 2008, 33, 36 m.w.N.).

Ob allerdings besondere tatsächliche Fallkonstellationen, über die das BSG noch nicht entschieden hat, aus verfassungsrechtlichen Überlegungen anders zu bewerten sein werden; muss der Klärung im jeweiligen Hauptsacheverfahren überlassen bleiben. Bis dahin werden solche Konstellationen bei nicht vollständiger Aufklärung der Sach- und Rechtslage in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden sein. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 und zuletzt BVerfG, Beschluss vom 29.11.2007, 1 BvR 2496/07). In aller Regel wird aber bei einer fehlenden Vorbezugszeit im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG unter Zugrundelegung der neuen Rechtsprechung des BSG kein Raum mehr für eine Folgenabwägung bleiben.

In dem hier beim Sozialgericht bereits anhängigen Hauptsacheverfahren wäre zu entscheiden, ob es im vorliegenden Fall, in dem die Antragstellerin während eines mehr als 13-jährigen rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland als anerkannte Asylberechtigte und einem rechtmäßigen Bezug von Sozialleistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe ausnahmsweise aus verfassungsrechtlichen Gründen gerechtfertigt ist, die Antragstellerin nach dem Widerruf der Anerkennung des Asyls nicht für die Dauer von noch 36 bzw. nunmehr 48 Monaten auf Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu verweisen. [...]