Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für jungen männlichen Tamilen von der Jaffna-Halbinsel wegen Gefahr von Übergriffen durch Sicherheitskräfte.
Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für jungen männlichen Tamilen von der Jaffna-Halbinsel wegen Gefahr von Übergriffen durch Sicherheitskräfte.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Die im Übrigen aufrecht erhaltene zulässige Verpflichtungsklage ist im gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im tenorierten Umfang begründet, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. [...]
Zumindest liegt der Wiederaufgreifensgrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. VwVfG vor, da sich seit Januar 2006 die Sachlage zu Gunsten des Klägers nachträglich geändert hat. Die geänderte Sachlage ergibt sich aus der sich seit dem Jahre 2006 stetig verschlechternden Sicherheitslage in Sri Lanka, insbesondere für Tamilen aus deren angestammten Siedlungsgebieten.
Dem Kläger ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzubilligen. [...]
Für die Gruppe junger männlicher Tamilen, die bis zu ihrer Ausreise stets auf der Jaffna-Halbinsel gelebt haben - wie der Kläger - besteht im Rückkehrfall - der ausschließlich über die Hauptstadt Colombo erfolgen kann - eine derartig extreme Gefahrenlage, dass § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung einer Abschiebung entgegensteht.
Die allgemeine Sicherheitslage in Sri Lanka stellt sich nach Auswertung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt hat bereits in seiner ad hoc-Information vom 31.2007 ausgeführt, auf Grund der jüngsten politischen Entwicklungen, insbesondere der teilweisen Wiedereinführung der repressiven Antiterrorgesetze im Dezember 2006 und die Einnahme der Vakari/Ostprovinz durch srilankische Regierungstruppen im Januar 2007 habe sich die Situation verschärft. Nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06. Oktober 2008 stellt sich gegenwärtig die Situation wie folgt dar: Das bereits seit langem nicht mehr eingehaltene Waffenstillstandsabkommen von Februar 2002 ist zum 16. Januar 2008 vom srilankischen Präsidenten aufgekündigt. Regierungstruppen und von der Regierung nicht kontrollierte paramilitärische Einheiten, insbesondere die Karuna-Gruppe oder TMVP (tamil people liberation tigers) haben im Sommer 2007 die LTTE aus ihren östlichen Stellungen vertrieben. Die Sicherheitslage verschärft sich weiterhin. Insbesondere kommt es zu Bombenanschlägen mit zahlreichen Todesopfern, die von der Regierung der LTTE zugeschrieben werden. Es kommt zu einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und von Repressionen seitens der LTTE und mit der Regierung kollaborierender paramilitärischer Gruppen. Das im November und Dezember 2006 weiter verschärfte Notstandsrecht gibt den Sicherheitsbehörden sehr weitgehende Eingriffsrechte mit nur noch sehr eingeschränkter richterlicher Kontrolle. Besonderem Druck ausgesetzt ist die tamilische Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige häufig unter den Generalverdacht der Unterstützung der LTTE-Rebellen gestellt werden. Menschenrechtsverletzungen werden kaum untersucht oder strafrechtlich verfolgt. Es gibt zunehmenden Druck auf regierungskritische Medien und massive Versuche, oppositionelle Politiker einzuschüchtern. Tamilen werden nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes nicht allein auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen schon bei Vorliegen geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des "Terrorism Prevention Act" Ende 2006 ist die richterlicher Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Die Unterstützung der LTTE ist mit dem "Terrorism Prevention Act" erneut strafbar. Auch wenn die LTTE in diesem Gesetz nicht ausdrücklich genannt wird. Jeder, der in den Augen der Sicherheitsbehörden der Nähe zur LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. In den Augen der Sicherheitsbehörden sind besonders verdächtig Tamilen, die sich erstmals in dem von der Regierung beherrschten Gebiet niederlassen wollen. Tamilen, die in der Vergangenheit seitens der Sicherheitsbehörden oder der LTTE verfolgt wurden, müssen seit Ende Dezember 2006 mit erneuter Verfolgung und Beeinträchtigungen ihrer Sicherheit rechnen. Dies trifft auch auf Personen zu, die sich in den vom Bürgerkrieg bislang verschonten Gebieten der Insel einschließlich der Hauptstadt Colombo aufhalten. Auch in diesen "friedlichen" Regionen gehören Razzien und nächtliche Verhaftungsaktionen seit Anfang 2007 zur Tagesordnung. 90% der im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung und Sicherheitsprävention Verhafteten sind Tamilen. Diese sind weit überproportional von Festnahmen und längeren Haftzeiten betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Bei Strafverfahren im Zusammenhang mit der Unterstützung der LTTE drohen auch bei relativ geringfügigen Delikten drakonische Haftstrafen. In Verfahren unter dem "Terrorism Prevention Act" müssen Angeklagte beweisen, das Geständnisse unter Zwang oder Folter erpresst worden sind. Die Untersuchungshaftzeiten sind lang, und es dauert oftmals mehr als 1 Jahr, bis überhaupt entschieden wird, ob eine Anklage erhoben wird oder nicht. Die LTTE und die TMVP üben Repressionen bis hin zu Mordanschlägen aus. Es liegen Informationen darüber vor, dass abgeschobene Tamilen aus Deutschland und anderen westlichen Staaten nach ihrer Rückkehr nach Colombo von der LTTE gefoltert und mit Mord bedroht wurden, nachdem sie nicht mit ihr kooperiert hatten. Es gibt innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Die nach dem Waffenstillstand 2002 bestehende Möglichkeit, sich im ganzen Land ohne große Einschränkung zu bewegen und nieder zu lassen, existiert nicht mehr. Mit dem im August 2005 wieder eingeführten und im Dezember 2006 verschärften Notstandsrecht haben die Vorwürfe über Folterungen durch die Sicherheitskräfte wieder erheblich zugenommen. Nach einer Aussage des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen wird Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet. Im Zusammenhang mit ethnischen Spannungen kommt es im Norden und Osten des Landes zu gezielten extra legalen Tötungen, die zumeist auf einzelne Personen oder Personengruppen zielen (Angehörige der Sicherheitskräfte, LTTE-Kader, Karuna-Anhänger, bestimmte Politiker, herausgehobene Persönlichkeiten), ohne dass die Urheberschaft für diesen Taten bewiesen werden könnte. Es besteht ein allgemeiner Verdacht, dass ein Teil dieser Taten von den staatlichen Sicherheitskräften, teilweise in Kollusion mit der TMVP verübt wird. Ein Asylantrag im Ausland begründet in aller Regel noch keinen Verdacht der LTTE nahe zu stehen. Ein Anfangsverdacht trifft aber Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder im Süden niederlassen wollen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war.
Diese Einschätzung der Lage in Sri Lanka wird auch durch Auskünfte und Stellungnahmen anderer Organisationen und Gruppen bestätigt. [...]
Für den Kläger führt diese Situation nach Überzeugung des Gerichts dazu, dass er sich im Falle seiner Abschiebung, die regelmäßig mit Passersatzpapieren erfolgen würde, bereits am Flughafen in Colombo nicht nur einer Personenkontrolle der srilankischen Einreisebehörde, sondern einer weiteren Befragung durch den CID zu Identität, persönlichem Hintergrund und Reiseziel unterziehen müsste (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008)
Ob es bei einer schlichten Befragung des Klägers bleiben würde oder darüber hinaus zu einer Inhaftierung kommen würde, kann nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden. Zumindest dürfte den aus einem nördlichen Landesteil stammenden Kläger aber ein Anfangsverdacht treffen, der LTTE nahezustehen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008).
Es kommt Berichten zufolge bei der Einreise regelmäßig zu Befragungen am Flughafen und es sind Fälle bekannt, in denen abgelehnte Asylbewerber am Flughafen festgehalten worden sind. Einem aus Australien abgeschobenen Asylbewerber wurden Verbindungen zu LTTE unterstellt und ihm wurde gedroht, ihn weiter festzuhalten. Er konnte sich weiteren Verhören und Polizeigewahrsam nur durch Zahlung einer Geldsumme entziehen. In einem anderen vom UNHCR dokumentierten Fall wurde ein aus Großbritannien abgeschobener Asylbewerber bei der Einreise verhaftet und starb drei Wochen später in Gewahrsam. Der UNHCR wurde informiert, dass er Selbstmord begangen habe, es liegen jedoch Beweise für eine Tötung nach Folter vor (vgl. amnesty international, Auskunft vom 18. April 2007 an das VG Hannover).
Auch wenn nicht mit letztendlicher Sicherheit festgestellt werden kann, ob der Kläger schon bei seiner Einreise am Flughafen festgehalten würde, steht aber nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aufgrund des andauernden Ausnahmezustandes und der Notstandsregelungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr willkürlich verhaftet würde und in der Haft Opfer von Folter und Misshandlung würde.
Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Sofern der Kläger nach Ankunft in Colombo die Rückkehr in sein Heimatgebiet, die Jaffna-Halbinsel anstrebt, erscheint schon mehr als fraglich, ob dem Kläger dies angesichts der zahlreichen staatlich-militärischen Straßensperren und Kontrollen und der Passierung der gegenwärtig unter der Verwaltung der LTTE stehenden Nordprovinz überhaupt gelingen könnte.
Zunächst müsste der Kläger sich in Colombo nach Registrierung Ausweispapiere, die sog. National Identity Card (NIC) beschaffen. Sollte ihm dies nicht gelingen, ist ohnehin davon auszugehen, dass er an der ersten Kontrollstelle inhaftiert wird. Andernfalls besteht auf der Jaffna-Halbinsel für den Kläger gegenwärtig die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass ihm dort Folter oder sogar Tötung droht. Ausweislich der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Dezember 2007 ist die Zunahme extralegaler Tötungen besonders in Jaffna besorgniserregend. In Jaffna behält die Armee die National Identity Cards junger Tamilen ein und fordert sie auf, später zu den Army Camps zu kommen, um den Ausweis wieder abzuholen. Es gibt verschiedene Berichte darüber, dass die jungen Männer dann verschwinden.
Sollte der Kläger nicht in sein Heimatgebiet zurückkehren, sondern sich in Colombo niederlassen wollen, ist ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er alsbald nach seiner dortigen Niederlassung willkürlich verhaftet würde und in der Haft Opfer von Folter und Misshandlung würde. Seit die Verschärfungen des Notstandsrechts in Kraft getreten sind werden auch in den von der Regierung verwalteten Gebieten in Colombo und dem Süden des Landes zahlreiche Hausdurchsuchungen und PKW-Kontrollen durchgeführt. Es kommt dort wöchentlich zu Razzien mit teilweise Hunderten von Festnahmen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008).
Die Polizei führt regelmäßig Razzien in Wohnungen, auf Straßen und zum Teil in ganzen Stadtgebieten durch. Die Situation in Colombo ist besonders angespannt. Die Bewohner von tamilisch besiedelten Gegenden, wo auch der Kläger seinen Wohnsitz nähme, sind aufgefordert, sich bei der Polizei zu registrieren. Bei den folgenden Großrazzien werden anhand der so erstellten Listen nicht registrierte Bewohner sofort festgenommen (vgl. amnesty international, Auskunft vom 18. April 2007 an das VG Hannover).
Sollte der Kläger sich vor seiner Wohnsitznahme registrieren lassen, lenkte er das Interesse der Sicherheitskräfte sofort auf sich, da in den Augen der Sicherheitskräfte besonders verdächtig der Nähe zur LTTE jeder Tamile ist, der sich - wie der Kläger - erstmals in dem von der Regierung beherrschten Gebiet niederlassen will (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008; Schweizer Flüchtlingshilfe "Sri Lanka unter Notstandsrecht", Dezember 2007).
Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges kommt es im gesamten Regierungsgebiet zu Verfolgungshandlungen der Sicherheitskräfte gegenüber Personen, die der Nähe zur LTTE verdächtig sind. Jeder, der in den Augen der Sicherheitskräfte der Nähe zur LTTE verdächtigt wird, muss damit rechnen, verhaftet zu werden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008).
Im Zusammenhang mit Antiterror-Operationen ist Folter zur Routine geworden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008; Schweizer Flüchtlingshilfe "Sri Lanka unter Notstandsrecht", Dezember 2007).
Eine richterliche Kontrolle solcher willkürlichen Verhaftungen ist nicht gewährleistet. Wer verhaftet wird muss mit längerer Inhaftierung und Folter rechnen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Oktober 2008; Schweizer Flüchtlingshilfe "Sri Lanka unter Notstandsrecht", Dezember 2007).
Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass für den Kläger im Rückkehrfall in Sri Lanka als junger männlicher Tamilen, die bis zu ihrer Ausreise stets auf der Jaffna-Halbinsel gelebt habt, eine derartig extreme Gefahrenlage besteht, dass § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung einer Abschiebung entgegensteht. [...]