VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 05.12.2008 - 13 K 1379/08.A - asyl.net: M14809
https://www.asyl.net/rsdb/M14809
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Erlöschen, Unterschutzstellung, Besuchsreise, Freiwilligkeit, Ausländerbehörde, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil, Rechtskraftwirkung, Änderung der Sachlage, Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Gefahr für die Allgemeinheit, Wiederholungsgefahr, Drogendelikte, Straftat, Strafurteil
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 72 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 121; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. [...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 10. April 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Als Ermächtigungsgrundlage für den mit dem angefochtenen Bescheid verfügten Widerruf der Feststellung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des früheren Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl I S. 1354) - AuslG - vorliegen, kommt in erster Linie § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in Betracht. [...]

§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gebietet den unverzüglichen Widerruf, wenn - u.a. - die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nicht mehr vorliegen.

Mithin setzt § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG tatbestandlich zunächst voraus, dass im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung (u.a.) noch eine Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu Gunsten des Adressaten des Widerrufsbescheides besteht. Dies ist hier der Fall, weil diese Feststellung noch nicht auf Grund der Rückkehr des Klägers in den Iran im Jahre 2004 erloschen ist. Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erlischt u.a. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - mithin nach den obigen Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 73 AsylVfG auch die nach altem Recht getroffene Feststellung, dass Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren ist - wenn sich der Ausländer freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates unterstellt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Eine Unterschutzstellung ist vorliegend durch die Rückkehr des Klägers in den Iran im Juli 2004 nicht erfolgt.

Hiervon geht die im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung zuständige Ausländerbehörde des Oberbürgermeisters der Stadt Münster aus. Diese hat dem Bundesamt mit Schreiben vom 19. Juni 2008 mitgeteilt: Der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG sei mangels Freiwilligkeit der Rückkehr nicht erfüllt. [...]

An diese "inzident" (jedenfalls nicht dem Kläger gegenüber) getroffene Entscheidung der Ausländerbehörde, dass dessen Abschiebungsschutz bislang nicht erloschen sei, ist das Gericht zwar nicht gebunden. Dies folgt schon aus dem Umstand, dass § 72 AsylVfG das Erlöschen von Asyl bzw. Abschiebungsschutz kraft Gesetzes anordnet. Ein Verwaltungsverfahren im eigentlichen Sinne ist dem Erlöschen nicht vorgeschaltet. Es kann lediglich durch Anfechtungsklage gegen eine aufenthaltsbeendende Verfügung inzident zur Prüfung gestellt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1991 - 9 C 126.90 - , BVerwGE 89, 231, 235).

Ist hinsichtlich des Erlöschens kein Verwaltungsverfahren erforderlich und hat darüber hinaus auch kein gerichtliches Verfahren betreffend aufenthaltsbeendende Maßnahmen - die von der Ausländerbehörde bislang nicht getroffen worden sind - stattgefunden, fehlt es bereits an einer vorgreiflichen und möglicherweise bestandskräftigen Entscheidung über das Erlöschen.

Jedoch folgt das Gericht der Auffassung der Ausländerbehörde, dass im vorliegenden Fall der Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG, der zu Gunsten des Klägers entsprechend dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Juni 1999 (A 13 K 12757/98) festgestellt wurde, nicht erloschen ist. Maßgebend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG ist in erster Linie das der Passbeantragung bzw. -erneuerung zugrundeliegende subjektive Motiv des Flüchtlings. Dies erlaubt vorliegend den Rückschluss, dass sich der Kläger nicht freiwillig dem Schutz seines Staates unterstellt hat. Der Kläger hat hierzu - auch in der mündlichen Verhandlung - vorgetragen, dass er zurückgereist sei, weil sich der Gesundheitszustand seines Vaters, der unter schwerem Asthma und zwei Herzinfarkten leide, deutlich verschlechtert und die Mutter ihm mitgeteilt habe, dass der Vater möglicherweise sterben würde. [...] Der Kläger hat insoweit angegeben, sich auf die Einschätzung seiner Mutter, der Vater sei lebensbedrohlich erkrankt, verlassen zu haben und sei dann Hals über Kopf zurückgereist. Es wäre nach Auffassung des Gerichts dem Kläger nicht zuzumuten gewesen, sich über diese Beurteilung vor einer Rückkehr durch die Übersendung aussagekräftiger ärztlicher Bescheinigungen zu vergewissern. [...] Eine Rückkehr in das Heimatland vor diesem Hintergrund ist nach den Kriterien, die die Rechtsprechung zu diesem Merkmal entwickelt hat, nicht mehr freiwillig. Vielmehr ist der Kläger aus dringenden familiären Gründen einer sittlichen Pflicht nachgekommen und zudem lediglich kurzfristig (für drei Wochen) in das Verfolgerland zurückgekehrt (vgl. zur fehlenden Freiwilligkeit der Rückkehr in derartigen Fällen: BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1991, a.a.O., S. 237).

Die nach dem Vorstehenden ungeachtet der Rückkehr des Klägers in den Iran im Sommer 2004 fortbestehende Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, kann von der Beklagten nicht rechtmäßig widerrufen werden, weil - was § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf der Tatbestandsseite ebenfalls erfordert - die maßgeblichen Voraussetzungen für die Verfolgungsgefahr nicht weggefallen sind. [...]

Zunächst schließt der Umstand, dass im vorliegenden Fall die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu Gunsten des Klägers auf Grund der Verpflichtung des Bundesamtes durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Juni 1999 (A 13 K 12757/98) erfolgt ist, einen Widerruf dieser Feststellung nicht von vornherein aus. Allerdings kann nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines verwaltungsgerichtlichen Urteils (vgl. § 121 VwGO, wonach rechtskräftige Urteile die Beteiligten binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist) entfallen lassen. [...] Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sachlage entscheidungserheblich ist. Dies ist im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue, für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2002, 343 f.; siehe auch: BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2003 - 1 C 15.02 =, DVBl. 2003, 1280 f.) [...]

Zunächst vermag der erstgenannte Umstand den Widerruf nicht zu rechtfertigen. Denn der Zeitablauf seit der Anerkennung stellt für sich genommen grundsätzlich keine erhebliche Änderung der Sachlage dar. Die Rechtskraftwirkung des Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Juni 1999 ist zeitlich nicht begrenzt. Sie besteht überdies unabhängig von der Richtigkeit des Urteils (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 18. September 2001, a.a.O., S. 344 m.w.N.).

Deshalb ist es auch nicht angezeigt, auf Grund des Zeitablaufes in eine neuerliche - und von der verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung abweichenden - Bewertung der Erheblichkeit der Verfolgungsgründe einzutreten, wie es das Bundesamt in der angefochtenen Entscheidung offensichtlich macht. Dies gilt in besonderem Maße in solchen Fallkonstellationen, in dem das die Verpflichtung zum Abschiebungsschutz aussprechende Gericht seine Entscheidung auf eine individuelle Verfolgungsgefährdung und die Bewertung der dem zugrundeliegenden Erklärungen des Ausländers gestützt hat. So liegt der Fall hier: Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. Juni 1999 drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran nach § 51 Abs. 1 AuslG beachtliche Gefahren, weil nach seinen glaubhaften Schilderungen davon ausgegangen werden müsse, dass er als begabter und erfolgreicher Sportler unverschuldet habe kaltgestellt werden sollen. Mit einem fairen Gerichtsverfahren habe er nicht rechnen können.

Hinzu kommt, dass auch der Wegfall der im Asylverfahren festgestellten individuellen Verfolgungsgefahr regelmäßig die Feststellung voraussetzt, dass sich die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland des politisch Verfolgten nachträglich in signifikanter Weise verändert haben. Kann dies jedoch nicht festgestellt werden, ist ein individueller Wegfall der Verfolgungsgefahr im allgemeinen nicht zu unterstellen (vgl. Marx, AsylVfG, Kommentar, 6. Auflage 2005, Rdnr. 106 zu § 73).

Diese Betrachtungsweise spricht ebenfalls gegen einen Wegfall der Verfolgungsgefahr für den Kläger. Denn die politischen Verhältnisse in seinem Heimatland haben sich seit der Zuerkennung von Abschiebungsschutz im Jahre 1999 nicht wesentlich verändert. [...]

Auch die Rückkehr des Klägers in den Iran im Juli/August 2004 lässt nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz entfallen. Grundsätzlich kann die Rückkehr des politisch Verfolgten in den Heimatstaat einen Widerrufsgrund darstellen. Erforderlich ist aber, dass die Rückkehr auf einem freiwilligen Entschluss beruht (vgl. Marx, a.a.O., Rdnr. 90 ff. zu § 73).

Hier sind dieselben Maßstäbe an den Begriff der Freiwilligkeit anzulegen wie bei § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG. Daraus folgt, dass - wie oben dargelegt - keine freiwillige Rückkehr des Klägers in den Iran feststellbar ist. Um auf einen Wegfall der Verfolgungsgefahr schließen zu können, ist darüber hinaus erforderlich, dass die Rückkehr den zuständigen Verfolgungsorganen bekannt geworden sein muss und diese dennoch keine Maßnahmen gegen den Rückkehrer ergriffen haben. Beweiskräftiges Indiz hierfür ist regelmäßig die dauerhafte Niederlassung oder die behördlich genehmigte Einreise in den Herkunftsstaat in Verbindung mit einer ungefährdeten Ein- und Ausreise über offizielle Grenzübergangsstellen, bei welcher sich die Betreffenden offen. als Flüchtlinge zu erkennen geben (vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Februar 1986 - A 13 S 77/85 -, Entscheidungssammlung zum Ausländerrecht (EZAR) 214 Nr. 1 S. 3; Marx, a.a.O., Rdnr. 96 zu § 73).

Ausgehend von diesen Maßstäben lässt sich im vorliegenden Fall feststellen, dass der Kläger nicht mit dem Ziel der dauerhaften Niederlassung in den Iran zurückgekehrt ist. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, ihm sei es auf Grund seiner früheren Beziehungen als Sportler gelungen, in den Iran einzureisen und er habe die entsprechenden Personen für sich gewinnen und die Kontrollen passieren können, ohne weiter untersucht zu werden. [...] Nach drei Wochen sei er mit einer Gruppe iranischer Sportler wieder in die Türkei und anschließend nach Deutschland zurückgekehrt. Er habe ferner keinen Kontakt mit Behörden gehabt und sich nur im elterlichen Haus aufgehalten. [...]

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz sind im Fall des Klägers letztlich nicht dadurch entfallen, dass er mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Münster vom 2. Juni 2005 (14 Ls 260 Js 72/05) wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in sieben Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich, wobei es sich in einem Fall um eine nicht geringe Menge handelte, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt worden ist. Dabei lässt die Begehung einer solchen Straftat nicht schon aus sich heraus die Gefahr politischer Verfolgung entfallen. Letztere könnte sich vielmehr erhöhen, nämlich im Sinne des Entstehens einer anderen, neuerlichen Gefahr, im Iran abermals wegen dieses Delikts bestraft zu werden.

Der Kläger hat durch die rechtskräftige Verurteilung zu einer fast dreieinhalbjährigen Freiheitsstrafe die Gewährung von Abschiebungsschutz schließlich nicht verwirkt. Das könnte der Fall sein, wenn wegen der Verurteilung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, der wortgleich mit der Regelung des früheren § 51 Abs. 3 AuslG übereinstimmt, vorliegen. [...]

Die Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe führt nicht automatisch zum Ausschluss (hier: Wegfall) von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Maßgeblich für die Bewertung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gegeben sind, ist eine im Einzelfall vorliegende konkrete Wiederholungs- oder Rückfallgefahr. Dies folgt aus dem dem Begriff der "Gefahr" innewohnenden prognostischen Element. Es erfordert, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss; die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt nicht. Hier ist auf die Tatsituation, eine mögliche, ernsthafte soziale oder politische Neuorientierung oder sonstige Umstände abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185, 188 ff.).

Das Vorliegen einer derartigen konkreten Wiederholungs- bzw. Rückfallgefahr ist im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung konnte im vorliegenden Fall nicht feststellbar. [...] Zunächst ist festzuhalten, dass es nach der in Rede stehenden Straftat des Klägers zu keinen weiteren strafrechtlich relevanten Verfehlungen gekommen ist. [...] Prognostisch ist davon auszugehen, dass er auch weiterhin straffrei bleiben wird. [...]