Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter sippenhaftähnlicher Gefährdung in der Türkei; ob Sippenhaft droht, ist anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung zu prüfen.
Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter sippenhaftähnlicher Gefährdung in der Türkei; ob Sippenhaft droht, ist anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung zu prüfen.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), führt auch in der Sache zum Erfolg. [...]
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylanerkennung des Klägers sowie die zu seinen Gunsten getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Unrecht widerrufen. [...]
Der Kläger wurde als Asylberechtigter anerkannt, weil die bei seinem Vater zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden Umstände - Verfassen von regimekritischen Artikeln für die Zeitschrift "Selam" - für ihn einen objektiven Nachfluchtgrund unter dem Gesichtspunkt der sippenhaftähnlichen Gefährdung begründeten. [...]
Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei habe sich wesentlich geändert. Kein türkischer Staatsangehöriger werde wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt; es gebe keine Sippenhaft im rechtlichen Sinne.
Entgegen der Behauptungen des Bundesamtes sind seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.
Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang mehrere Gesetzespakte verabschiedet. Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, die Zulassung anderer Sprachen als der türkischen in Rundfunk und Fernsehen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteiverboten, eine Strafrechtsreform sowie Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008).
Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). Das Reformtempo hat sich seit Anfang 2005 aufgrund der innenpolitischen Spannungen verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.09.2008; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster und Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Jahr 2007 ist nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen jedoch wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Aufgrund der Verpflichtung zu ärztlichen Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen ist laut Menschenrechtsorganisationen davon auszugehen, dass Folter und Misshandlungen nur noch in wenigen Fällen bei offiziell erfassten polizeilichen Ingewahrsamnahmen und Inhaftierungen vorkommen. Misshandlungen sollen nicht mehr in den Polizeistationen, sondern an anderen Orten, u.a. im Freien stattfinden; die Täter sollen nach Presseberichten vermummt sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter ist die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften. Nach wie vor verurteilen türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008).
Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Die PKK verübt regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär auch grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008).
In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Kritische Entwicklungen sind bei der Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zu beobachten. Gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger u.a. wurden seitens der türkischen Justiz öffentlichkeitswirksame Strafverfahren geführt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29.10.2006 an VG Ansbach). Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.
Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Es besteht nämlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Heimatbehörden noch heute davon Kenntnis besitzen, welche Vorwürfe seinerzeit gegen den Vater des Klägers im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von regimekritischen Artikeln erhoben worden sind, welche zu einer strafrechtlichen Verurteilung der verantwortlichen Herausgeber bzw. Redakteure geführt haben. Geheimdienste, Polizei und Gendarma führen Datenblätter (sog. Fisleme) über auffällig gewordene Personen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 264/05 -). Zwar gibt es in der Türkei keine Sippenhaft in Form strafrechtlicher Verfolgung. Die nach türkischem Recht aussagepflichtigen Familienangehörigen - etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten - werden allerdings zu Vernehmungen geladen, z.B. um über den Aufenthalt von Verdächtigen befragt zu werden. Werden Ladungen nicht befolgt, kann es zu zwangsweisen Vorführungen kommen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). In der Praxis kam es in der Vergangenheit relativ häufig zu Übergriffen auf nahe Verwandte von politischen Straftätern bzw. flüchtigen Verdächtigen (vgl. Kaya, Gutachten vom 30.06.1997 an VG Hamburg, vom 11.03.1998 an VG Berlin und vom 10.11.2004 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 17.02.1997 an VG Hamburg; Rumpf, Gutachten vom 28.07.1997 und vom 24.07.1998 an VG Berlin; s. auch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 23.05.2001 an VG Sigmaringen), um z.B. den Aufenthaltsort des Gesuchten zu ermitteln, Informationen über dessen politisches Umfeld zu gewinnen oder Druck auf den Gesuchten auszuüben, um ihn zu bewegen, sich zu stellen. Auch wenn diese Fälle in den letzten Jahren sowohl ihrer Häufigkeit als auch der Intensität des ausgeübten Drucks nach zurückgegangen sein mögen, scheinen sie weiterhin vorzukommen. Amnesty International berichtet in seiner Länderkurzinfo Türkei vom 31.07.2005 von verschiedenen derartigen Fällen. Nach Kaya, Gutachten vom 10.12.2005 an HessVGH besteht jedenfalls eine Gefahr von Übergriffen auf Angehörige hochrangiger PKK-Funktionäre, wenn Anhaltspunkte für eine eigene politische Betätigung des Angehörigen bestehen. Das erkennende Gericht folgt daher dem Nds. Oberverwaltungsgericht (u.a. Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 264/05 - m. w. Nachw. aus der neueren Rechtsprechung) in der Einschätzung, dass die Möglichkeit einer asylrelevanten Verfolgung unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft nicht generell abzulehnen ist, sondern einer einzelfallbezogenen Würdigung bedarf.
Im vorliegenden Fall ergibt diese, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei damit rechnen muss, in die politische Verfolgung seines Vaters einbezogen zu werden. Für ihn besteht als naher Angehöriger einer Person, die sich zumindest verdächtig gemacht hat, staatsfeindliche Bestrebungen öffentlichkeitswirksam zu unterstützen, die Gefahr, wegen seines Vaters - um nähere Informationen über dessen Aktivitäten, dessen Umfeld und Kontakte zu erhalten - verhört und bei den Verhören menschenrechtswidriger Behandlung unterzogen zu werden. An dieser Gefährdungslage hat sich seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 nichts geändert. [...]
Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten (vgl. dazu die jüngsten gerichtlichen Entscheidungen: OVG Münster, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A -; VG Göttingen, Urteil vom 12.11.2008 - 1 A 392/06 -; VG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2008 - A 11 K 304/07 -; VG Ansbach, Urteil vom 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 -; VG Oldenburg, Urteil vom 04.10.2007 - 5 A 4386/06 -; VG Minden, Urteil vom 10.03.2008 - 8 K 831/07.A -; VG Hannover, Urteil vom 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; alle zitiert nach juris), so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht weggefallen sind. Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum. [...]