VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.12.2008 - 24 A 292.08 - asyl.net: M14857
https://www.asyl.net/rsdb/M14857
Leitsatz:

Eigenständiges Aufenthaltsrecht wegen einer besonderen Härte gem. § 31 Abs. 2 AufenthG bei einer Vielzahl von Schikanen und Kränkungen durch den Ehemann, die in einer Gesamtschau über gelegentliche Auseinandersetzungen hinausgehen; es schließt die Annahme einer besonderen Härte nicht aus, wenn die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch den Ehepartner erfolgte.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, nachträgliche Befristung, Ehegattennachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, besondere Härte, Zumutbarkeit, Gesamtbetrachtung, Schikanen, häusliche Gewalt, Beleidigung, Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft
Normen: AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 31 Abs. 2
Auszüge:

Eigenständiges Aufenthaltsrecht wegen einer besonderen Härte gem. § 31 Abs. 2 AufenthG bei einer Vielzahl von Schikanen und Kränkungen durch den Ehemann, die in einer Gesamtschau über gelegentliche Auseinandersetzungen hinausgehen; es schließt die Annahme einer besonderen Härte nicht aus, wenn die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch den Ehepartner erfolgte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage der nachträglichen zeitlichen Befristung ist § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Danach kann die Frist, für die eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, nachträglich zeitlich verkürzt werden, wenn eine für die Erteilung oder Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen ist. Hier wurde der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis im Hinblick auf die eheliche Gemeinschaft mit ihrem Ehemann gemäß § 30 Abs. 2 AufenthG erteilt. Da die eheliche Gemeinschaft jedenfalls seit Ende Juli 2007 nicht mehr besteht, ist der dieser Erteilung zugrundeliegende Zweck entfallen. Damit liegen die Voraussetzungen für eine nachträgliche Verkürzung der der Klägerin zuletzt bis zum 16. April 2010 erteilten Aufenthaltserlaubnis an sich vor.

Allerdings darf auch dann, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorliegen, trotzdem regelmäßig keine Verkürzung der Befristung der Aufenthaltserlaubnis verfügt werden, wenn der Ausländer aus anderen Gründen einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat, denn ein solcher Anspruch steht einer nachträglichen Verkürzung der Befristung grundsätzlich entgegen. Eine nachträgliche Verkürzung der Frist scheidet in einem solchen Fall regelmäßig aus (BVerwGE 99, 28; E 100, 130; VGH Mannheim, Urteil vom 15. Oktober 2003 - 11 S 910/03 - je zur gleichlautenden Vorgängervorschrift in § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG; Armbruster, HTK-AuslR, 7 AufenthG, zu Absatz 2 Satz 2, Ziffer 4 m.w.N.).

So ist es hier. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG zu. [...]

Gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist von der Voraussetzung des zweijährigen rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet jedoch abzusehen, soweit es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Eine besondere Härte liegt gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG insbesondere dann vor, wenn dem Ehegatten wegen der aus der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft erwachsenen Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange droht (1. Fall) oder wenn dem Ehegatten wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist (2. Fall). Die Regelung des 2. Falles findet ihren Grund in der Erwägung des Gesetzgebers, den Ehegatten nicht wegen der Gefahr der Beendigung seines akzessorischen Aufenthaltsrechts zur Fortsetzung einer nicht tragbaren Lebensgemeinschaft zu zwingen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 14. März 2000, BT-Drucks. 14/2902, Seite 5 f.). Demgemäß ist für die Beurteilung der Unzumutbarkeit zeitbezogen nicht die dauerhafte Fortsetzung der Ehe, sondern das Erreichen der Zweijahresfrist in den Blick zu nehmen (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. A., § 31 AufenthG, Rn. 23). Zu den Schutzgütern des § 31 Abs. 2 Satz 2, 2. Fall AufenthG zählen vor allem die sexuelle und sonstige Selbstbestimmung, die persönliche Freiheit und Ehre sowie die körperliche Unversehrtheit (vgl. Renner, a.a.O., Rn. 21). Diese Schutzgüter sind jedenfalls dann rechtserheblich verletzt, wenn der nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat, oder wenn der andere Ehegatte das in der Ehe lebende Kind sexuell missbraucht oder misshandelt hat (vgl. BT-Drucks. 14/2368, Seite 4). Allerdings schließen diese im Gesetzgebungsverfahren angeführten eindeutigen Beispiele weitere Anwendungsfälle der Vorschrift nicht aus. Unbeschadet dessen werden gelegentliche Ehestreitigkeiten, Auseinandersetzungen, Meinungsverschiedenheiten, grundlose Kritik und Kränkungen, die in einer Vielzahl von Fällen trennungsbegründend wirken, für sich genommen noch nicht dazu führen, dass das Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist (vgl. zum Ganzen: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. April 2006 - 11 S 34.05 -; OVG Münster, Beschluss vom 24. Januar 2003 - 18 B 2157/02 -, NVwZ-RR 2003, S. 527; VGH München, Beschluss vom 18. Januar 2001 - 10 ZS 00.3383 -, InfAuslR 2001, S. 277).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe geht der Einzelrichter vor dem Hintergrund der Beweisaufnahme davon aus, dass der Klägerin wegen der Beeinträchtigung ihrer schutzwürdigen Belange das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist.

Das schließt der Einzelrichter aus den Schilderungen der Klägerin, die er ihr im Wesentlichen glaubt. Danach war es ihr regelmäßig verboten, die Wohnung ohne Einverständnis ihres Ehemannes zu verlassen, der aus Anlass von Meinungsverschiedenheiten die Klägerin auf äußerst ehrverletzende Weise beschimpfte und sie gelegentlich ohrfeigte. Ihr Sozialverhalten wurde praktisch permanent kontrolliert und sie war häufig gezwungen, ihre Tage in den beengten Verhältnissen der ehelichen, nur knapp 31 qm großen Ein-Zimmer-Wohnung zu verbringen. Ihr war der Zugang zu dem von ihr selbst verdienten Geld verwehrt. Auch der Umgang mit Bekannten aus dem Deutsch-Kurs war auf die Zeiten beschränkt, in denen der Deutsch-Kurs stattfand. Die Klägerin wurde damit praktisch wie ein unmündiges Kind behandelt, das zudem beschimpft und gezüchtigt werden konnte, wenn ihr Ehemann es für angebracht hielt. In der Gesamtschau wurde die Klägerin daher von ihrem Ehemann in einer Weise schikaniert und unterdrückt, die über gelegentliche Auseinandersetzungen, grundlose Kritik und Kränkungen, wie sie in einer Vielzahl von Fällen zur Trennung führen, für sich genommen aber noch nicht das Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar machen, deutlich hinausgehen und einer psychischen Misshandlung gleich- oder doch sehr nahe kommen (vgl. hierzu Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz vom 22. Dezember 2004, Tz. 31.2.5.). Der Einzelrichter teilt deshalb auch nicht die vom Beklagten im angefochtenen Bescheid vertretene Auffassung, dass die von der Klägerin geschilderten Einzelheiten ihrer Ehe sich nicht von einer Vielzahl vergleichbarer Situationen in anderen Ehen unterschieden. [...]

Schließlich steht der Unzumutbarkeit des weiteren Festhaltens an der ehelichen Lebensgemeinschaft für die Klägerin im Sinne des § 31 Abs. 2 Satz 2, 2. Fall AufenthG auch nicht entgegen, dass nach der Darstellung der Klägerin die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch ihren Ehemann erfolgt ist. Die Vorschrift stellt bereits ihrem Wortlaut nach auf die Unzumutbarkeit des weiteren Festhaltens an der ehelichen Lebensgemeinschaft für den nachgezogenen Ehegatten ab, nicht darauf, dass dieser die Unzumutbarkeit auch nach außen dadurch dokumentiert, dass er die eheliche Lebensgemeinschaft beendet. Der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Fall AufenthG bezweckte Schutz bestätigt den durch den Wortlaut nahegelegten Befund, nach dem allein die objektive Unzumutbarkeit der Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft für den nachgezogenen Ehegatten maßgeblich ist. Ein Ausschluss des nachgezogenen Ehegatten vom Erwerb eines eigenständigen Aufenthaltsrecht, weil er - trotz Vorliegens einer objektiv untragbaren Behandlung durch den Ehepartner - in der Ehe ausharrte, als dieser die eheliche Lebensgemeinschaft auflöste, liefe der beabsichtigten Begünstigung des physisch oder psychisch misshandelten Ehegatten zuwider. Dies gilt um so mehr, als die Beweggründe für ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft trotz objektiver Unzumutbarkeit vielfältiger Art sein können, etwa traditionelle oder wirtschaftliche Motive oder auch nur die Hoffnung auf Besserung. Käme es auf die Person an, die die Trennung herbeiführt, hätte zudem der misshandelnde Ehegatte die Macht, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des misshandelten Ehepartners zu verhindern, was gleichfalls dem Schutzzweck des § 31 Abs. 2 Satz 2. 2. Fall AufenthG widerspräche (VGH Kassel, Beschluss vom 17. Januar 2007 - 7 TG 2908/06 -, AuAS 2007, S. 122 ff.; VGH Mannheim, Beschluss vom 28. Februar 2003 - 13 S 2798/02 -, InfAuslR 2003, S. 232, 234; OVG Münster, Beschluss vom 26. Mai 2003 - 17 B 557/01; VGH Kassel, Beschluss vom 5. Juli 2004 - 9 TG 1237/04 -; a.A. VGH Kassel, Beschluss vom 10. Oktober 2005 - 9 TG 2403/05 AuAS 2005, S. 266). [...]