OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.01.2009 - 11 S 28.08 - asyl.net: M14858
https://www.asyl.net/rsdb/M14858
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Zumutbarkeit, Familienzusammenführung im Ausland, Polen, Unionsbürger, Türkei
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für den Antragsteller durch das Verwaltungsgericht hat auf der nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgeblichen Grundlage dessen, was hierzu in der gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO geforderten Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung fristgemäß mit der Begründungsschrift vom 7. April 2008 dargelegt wurde, keinen Erfolg.

Der Senat geht mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass dem Antragsteller auf dieser Grundlage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung des Abschiebung (Duldung) gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG zusteht, jedenfalls eine Interessenabwägung zunächst für einen weiteren Verbleib des Antragstellers bei seiner Familie spricht (vgl. zum Prüfungsumfang zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei grundrechtsrelevanten Beeinträchtigungen nur BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, 927 ff.; Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 -, NJW 1989, 827 f.). [...]

Nach § 60 a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtliche Hindernisse können sich, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, aus Umständen ergeben, die die Ausreise als unzumutbar erscheinen lassen und damit der Abschiebung entgegenstehen. Solche können u.a. in inlandsbezogenen Abschiebungsverboten bestehen, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Bei solchen Abschiebungsverboten hat die zwangsweise Rückführung des betroffenen Ausländers zu unterbleiben (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14/05 -, InfAuslR 2007, 4 ff.).

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet die Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls. Das Zusammenleben eines nichtehelichen Vaters mit seinem Kind ist ferner als geschützte Gemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG anzusehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171 ff.). Der Schutz des Art. 6 GG greift in der Regel darin ein, wenn die Folgen der Beendigung des Aufenthalts im Hinblick auf eheliche und familiäre Belange unverhältnismäßig hart wären. In diesem Umfang decken sich die Schutzwirkungen des Art. 6 GG und diejenigen des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8/96 -, NVwZ 1999, 54 ff.). Der durch die in Rede stehende Abschiebung begründete Zwang, eine Trennung von seinen Kindern und damit seiner Familie hinzunehmen, ist geeignet, für Pflege und Erziehung der Kinder erhebliche Belastungen mit sich zu bringen. Dass der Antragsteller in einer Familiengemeinschaft mit den Kindern lebt und für diese sorgt, ist vom Antragsgegner nicht bestritten, dem entgegen stehende Anhaltspunkte hat auch der Senat nicht.

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art 6 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK besteht allerdings regelmäßig nicht, wenn der gesamten Familie ein Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zusteht oder diesen die gemeinsame Ausreise zumutbar ist. Denn aus Art. 6 GG folgt nicht die unbedingte Verpflichtung des Staates, dem Wunsch ausländischer Familienmitglieder auf eine Familieneinheit im Bundesgebiet zu entsprechen. Die in Art. 6 Abs. 1, 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie und auch die Rechte nichtehelicher Kinder zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Gerichte und die Ausländerbehörden jedoch, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen und angemessen zu berücksichtigen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122-126; BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171, 173).

Hiernach bedarf es zur Einschätzung der Schutzwirkung von Art 6 GG für den weiteren Verbleib des Antragstellers in der Bundesrepublik zunächst einer Klärung der Dauer der Trennung des Antragstellers von seinen 1998 und 2006 geborenen Kindern bei sofortiger Vollziehung der Ausreisepflicht, die im vorliegenden summarischen Verfahren nach der im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 VwGO sich ergebenden zeitlichen Beschränkung für die Berücksichtigung etwaiger nachträglicher Erkenntnisse allerdings nicht mit der geforderten Verlässlichkeit zu leisten ist. Deren Bedeutung war auch nicht bereits Gegenstand des Beschlusses des Senats zum Ausweisungsverfahren.

Hinsichtlich der Aufenthaltssituation der Kinder und der Kindesmutter, polnische Staatsangehörige, ist nach den hier maßgeblichen Verhältnissen bis zum Ablauf der Begründungsfrist für die Beschwerde des Antragsgegners, dem 7. April 2008, davon auszugehen, dass die Kinder im Hinblick auf die der Kindesmutter am 26. Oktober 2004 erteilte Aufenthaltserlaubnis/EG ebenfalls dem FreizügG/EU unterfallen. Soweit der Antragsgegner nach Mitteilung mit Schriftsatz vom 8. Januar 2009 nunmehr mit Bescheid vom 13. November bzw. 2. Dezember 2008 eine Negativfeststellung gemäß § 5 Abs. 5 FreizügG/EU getroffen hat, kann dies im vorliegenden Verfahren keine Berücksichtigung finden, zumal auch deren Bestandskraft nicht mitgeteilt wurde. Ob den Kindern, letztlich nur gemeinsam mit der Kindesmutter, die Ausreise in die Türkei, einen Drittstaat, hiernach zumutbar ist, kann insbesondere im Hinblick auf die hier völlig ungeklärten Fragen der dortigen Existenzgrundlage für die Familie sowie wegen der unterschiedlichen kulturellen Verhältnisse, insbesondere zunächst wahrscheinlicher erheblicher Probleme der sprachlichen Integration für die Kinder, im vorliegenden Verfahren nicht geklärt werden. Selbst der Antragsgegner hat insoweit mit der Beschwerdeschrift gewisse Zweifel anklingen lassen.

Von der Möglichkeit einer eher zumutbar erscheinenden gemeinsamen Ausreise der Familie in den Heimatstaat Polen der Kindesmutter und der Kinder konnte nach den maßgeblichen hier nur zu berücksichtigenden Verhältnissen mit Blick auf die Regelung von § 50 Abs. 4 AufenthG, nach der der Antragsteller mit einer Einreise in einen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften nur darin seiner Ausreisepflicht genügt, wenn ihm Einreise und Aufenthalt dort erlaubt sind, nicht ausgegangen werden. [...]