VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 27.01.2009 - 3 K 1637/08.A - asyl.net: M14861
https://www.asyl.net/rsdb/M14861
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in die Demokratische Republik Kongo wegen Infektion mit Hepatitis B; es besteht auch dann ein Rechtsschutzbedürfnis auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 AufenthG, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG besitzt.

 

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Rechtsschutzbedürfnis, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Kinshasa, Übergriffe, Situation bei Rückkehr, Hepatitis B, medizinische Versorgung, Infektionsrisiko, Malaria, Finanzierbarkeit, Mitgabe von Medikamenten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in die Demokratische Republik Kongo wegen Infektion mit Hepatitis B; es besteht auch dann ein Rechtsschutzbedürfnis auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 AufenthG, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG besitzt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig, insbesondere besteht für sie das notwendige Rechtsschutzbedürfnis, obwohl der Kläger im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG ist. Der dem Kläger zum Zwecke der Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft erteilte Aufenthaltstitel ist nur befristet erteilt worden und vermittelt dem Kläger daher nur ein vorläufiges, unsicheres Aufenthaltsrecht, während die von ihm im vorliegenden Verfahren begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG die Ausländerbehörde bis zu einer etwaigen bestandskräftigen Aufhebung durch das Bundesamt bindet und von daher eine Dauerwirkung entfaltet.

Die Klage ist auch begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG. [...]

Ausgehend von diesem Maßstab hätte der Kläger - ohne seine Erkrankung - im Hinblick auf die desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse allerdings keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Er würde unmittelbar nach einer Rückkehr in die D.R. Kongo aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen voraussichtlich nicht in eine extreme Gefährdungslage geraten, die mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit den sicheren Tode oder schwerste Verletzungen zur Folge hätte.

In der Hauptstadt Kinshasa, dem einzigen möglichen Zielort einer Abschiebung, besteht derzeit keine Bürgerkriegssituation, in der nahezu jede Person Gefahr laufen würde, Opfer eines Übergriffs zu werden.

Es lässt sich auch nicht feststellen, dass nahezu jeder abgeschobene Asylbewerber im Großraum Kinshasa mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre.

Für den Kläger besteht aber im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage in Kinshasa eine extreme Gefährdungslage. Die daraus erwachsenden Gefahren drohen zwar grundsätzlich der gesamten Bevölkerung bzw. bestimmten Bevölkerungsgruppen und unterfallen damit ebenfalls dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. In der Person des Klägers liegen wegen seiner aktuell virulenten Hepatitis-B-Erkrankung aber Besonderheiten vor, die es rechtfertigen, eine extreme Gefährdungslage anzunehmen.

Das Gesundheitswesen in der D.R. Kongo befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Staatliche Krankenhäuser waren schon vor der Rebellion und den Plünderungen 1998 heruntergewirtschaftet bzw. geplündert, sie entsprechen nicht europäischen Standards. Der Großteil der Bevölkerung kann nicht hinreichend medizinisch versorgt werden. Ein Krankenversicherungssystem existiert nicht; in der Regel zahlen Arbeitgeber die Behandlungskosten ihrer Beschäftigten. Angesichts der Arbeitslosenquote von über 90 % dürfte dies auf einen Rückkehrer jedoch nur ausnahmsweise zutreffen. In den anderen Fällen werden die Behandlungskosten unter erheblichen Anstrengungen von der Großfamilie aufgebracht. Nur wenn - im seltenen Fall - die Geldmittel zur Verfügung stehen, können die meisten in der D.R. Kongo vorkommenden Krankheiten diagnostiziert und mit Einschränkungen fachgerecht behandelt werden. Allerdings werden mittellose Kranke in Kinshasa nach übereinstimmenden Auskünften verschiedener befragter Ärzte aus ethischen Gründen nicht ohne medizinische Erstversorgung gelassen. Für zahlungskräftige Patienten stehen hinreichend ausgestattete private Krankenhäuser und fachkundige Ärzte zur Verfügung. Ebenso gibt es in Kinshasa einen Pharmagroßhandel, der bei entsprechender Bezahlung binnen weniger Tage so gut wie alle auf dem europäischen Markt zur Verfügung stehenden Medikamente auch nach Kinshasa liefern kann (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 9. Mai 2005, 05. September 2006 und 01. Februar 2008).

Den vorliegenden Erkenntnisquellen ist aber nicht zu entnehmen, dass Seuchen oder Epidemien in einem solchen Maße verbreitet sind, dass für jeden Rückkehrer die Gefahr besteht, alsbald nach seiner Rückkehr lebensgefährlich zu erkranken. Zwar ist das Risiko, in der D.R. Kongo - auch im Großraum Kinshasa - an Malaria, insbesondere der gefährlichen Form der Malaria Tropica, zu erkranken, hoch, zumal Rückkehrer nach einem längeren Aufenthalt in Europa ihre in der Heimat erworbene Semi-Immunität verloren haben bzw. die im Ausland geborenen und aufgewachsenen Kinder diesen Schutz erst gar nicht erworben haben (vgl. Deutsche Botschaft Kinshasa, Auskunft vom 9. Februar 2004 an das Nds. OVG; Dr. Thomas Junghans, Gutachten vom 6. November 2002 für den VGH Bad.-Württ. - A 6 S 967, 973/01 -; Prof. Dr. M. Dietrich, Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Auskunft vom 2. April 2002 an das BAFl).

Gerade deshalb handelt es sich aber um eine Erkrankung, für die in der Bevölkerung ein allgemeines Risikobewusstsein vorhanden ist. Bei hinreichend verantwortungsbewusstem Handeln kann eine Infektion verhindert oder zumindest rechtzeitig erkannt und mit den im Großraum Kinshasa in ausreichender Menge vorhandenen und erhältlichen Medikamenten mit Erfolg behandelt werden. Verfügt der Betroffene nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel zum Erwerb der Medikamente, so kann er sich regelmäßig an nichtstaatliche Organisationen, insbesondere an Kirchen wenden (vgl. Deutsche Botschaft Kinshasa, Auskunft vom 24. Oktober 2001 an das BAFl. und vom 18. Mai 2001 an den VGH Bad.-Württ.).

Im Hinblick darauf führt die - gemessen an europäischen Standards - unzureichende medizinische Versorgungslage auch unter Berücksichtigung des Malariarisikos grundsätzlich nicht zur Annahme einer extremen Gefährdungslage (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. April 2002, a.a.O. und Beschl. vom 15. November 2004 - 4 A 4601/03.A -; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24. Juli 2003 - A 6 S 971/01 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10. Februar 2003 - 4 L 169/02 -; OVG Bremen, Beschluss vom 28. November 2002 - 1 A 375/02.A -).

Ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen der behandelnden Fachärzte und Kliniken handelt es sich um eine aktuell und voraussichtlich noch mehrjährig behandlungsbedürftige Hepatitis-B, die einer engmaschigen Kontrolle und Medikation bedarf. Die Therapie ist für den Kläger lebenswichtig. Die von ihm ständig benötigten Medikamente und sonstigen Therapiekosten belaufen sich in Deutschland auf 468,84 Euro. Es ist bereits zweifelhaft, ob die zum Lebenserhalt notwendige Therapie in der Demokratischen Republik Kongo erhältlich ist, jedenfalls aber ist nicht erkennbar, wie der Kläger die hierfür erforderlichen Geldbeträge aufbringen soll. Für Krankheitskosten (Medikamente, ärztliche Behandlungskosten) gibt es keine staatlichen Leistungen, eine Kostenübernahme oder auch nur Unterstützung durch nichtstaatliche Organisationen ist nicht sichergestellt, d.h. sämtliche Kosten müssten im Zweifel vom Kläger selbst aufgebracht werden. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es dem Kläger, der über kein Vermögen verfügt, möglich wäre, für diese Kosten - zusätzlich zu den Lebenshaltungskosten - aufzukommen. Ob tatsächlich heute noch Familienangehörige des Klägers in Kinshasa leben, die zusätzlich bereit und imstande wären, für diese immens hohen Kosten einzustehen, ist schon deshalb zweifelhaft, weil der Kläger bereits Anfang 1993 aus seinem Heimatland ausgereist ist und sich seither - bis auf einen mehrmonatigen Zwischenaufenthalt im Heimatland von Dezember 2004 bis August 2005 - im Bundesgebiet aufhält. Ohne eine fortlaufende Medikation und Kontrolle ist mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen zu rechnen. Die dargestellten konkreten Gefahren wären für den Kläger auch nicht etwa ausgeschlossen, wenn sich die zuständige Ausländerbehörde bereit erklären würde, ihm für den Fall der Ausreise bzw. Abschiebung für eine Übergangszeit die notwendigen Medikamente mitzugeben. Die Versorgung mit Medikamenten für einen vorübergehenden Zeitraum ist ausschließlich für die Überbrückung der schwierigen Zeit gedacht, bis entweder der Abgeschobene in seinem Heimatland wieder selbst für alles Notwendige sorgen kann oder die Unterstützung seines Heimatlandes erfährt. Eine wie auch immer geartete Fürsorgepflicht gibt es allerdings in der Demokratischen Republik Kongo nicht. Die Verschiebung des Eintritts einer gravierenden Verschlechterung der Erkrankung des Klägers durch die Mitgabe von Medikamenten lässt einen Verstoß gegen die Menschenwürde und das Verbot der Verletzung von Leib und Leben nicht entfallen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.: Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.98 -) liegt eine extreme Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG analog (nunmehr: § 60 Abs. 7 AufenthG analog) nicht nur dann vor, wenn die Gefahr am Tag des Eintreffens im Heimatland eintritt, sondern auch dann, wenn zwischen dem Tag der Abschiebung und dem Eintritt der Gefahr ein Zeitraum liegt, der die sozialadäquate Kausalität zwischen Abschiebung und Gefahreneintritt noch deutlich erkennen lässt. Das wäre hier der Fall. [...]