OLG Zweibrücken

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Zitieren als:
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 21.11.2007 - 3 W 239/07 - asyl.net: M14873
https://www.asyl.net/rsdb/M14873
Leitsatz:

Eine Ausweisung vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes kann nicht zur Rechtfertigung von Abschiebungshaft eines Unionsbürgers herangezogen werden.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Unionsbürger, Anwendbarkeit, Aufenthaltsgesetz, Freizügigkeitsgesetz/EU, Freizügigkeit, Nichtbestehensfeststellung, Ausländerbehörde, Ausweisung, Altfälle, Ausländergesetz, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2; AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 2; AufenthG § 102 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 104 Abs. 1; FreizügG/EU § 6; FreizügG/EU § 7 Abs. 1
Auszüge:

Eine Ausweisung vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes kann nicht zur Rechtfertigung von Abschiebungshaft eines Unionsbürgers herangezogen werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Als Haftgrundlage kommt allein § 62 Abs. 2 AufenthG in Betracht.

1. Das Aufenthaltsgesetz findet gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 grundsätzlich keine Anwendung auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Das Freizügigkeitsgesetz/EU gilt für alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen nach §§ 2 bis 4 erfüllen oder nicht (HessVGH NVwZ 2005, 837; OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 118 und Beschluss vom 6. Juni 2007 - 2 Wx 49/07 -). Damit findet es auch Anwendung auf den Betroffenen, von dessen ungarischer Staatsangehörigkeit die Vorinstanzen rechtsfehlerfrei ausgegangen sind.

2. § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, der ausdrückliche Verweisungen auf einzelne Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes enthält, nennt § 62 AufenthG nicht.

3. Die Vorschrift ist auch nicht über § 11 Abs. 2 FreizügG/EU anwendbar. Danach findet - sofern das Gesetz keine besonderen Regelungen trifft - das gesamte Aufenthaltsrecht Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat.

Nach Aktenlage hat die Beteiligte zu 2) eine solche Feststellung nicht getroffen. Die gegen den Betroffenen ergangene Ausweisungsverfügung der Landeshauptstadt München vom 26. Februar 1992 kann zur Begründung einer Haftanordnung nach § 62 Abs. 2 AufenthG nicht herangezogen werden.

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in den Gründen seiner jüngsten Entscheidung vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - ausgeführt, dass "der Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU intertemporal der auf einer bestandskräftigen Ausweisung beruhende Verlust des Freizügigkeitsrechts gleichsteht". Diese Entscheidung betraf allerdings nur die materielle Freizügigkeit. Der dortige Kläger hatte die Aufhebung seiner bestandskräftigen Ausweisung aus dem Jahr 1995 mit der Begründung begehrt, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten geändert; als EU-Bürger könne er nicht mehr ausgewiesen werden. Allein für diese Fallgestaltung hat das Bundesverwaltungsgericht die Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG herangezogen. Die Frage, ob eine "Altausweisung" nach Einführung des Aufenthaltsgesetzes und des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Begründung einer Haftanordnung herangezogen werden darf, war indes nicht Gegenstand des Rechtsstreits; eine Aussage hierüber wurde nicht getroffen.

Der Senat verneint diese Frage aus folgenden Erwägungen:

Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs. Die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person darf gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nur aufgrund eines formalen Gesetzes beschränkt werden. Die Eingriffsvoraussetzungen müssen sich unmittelbar und hinreichend bestimmt aus dem Gesetz selbst ergeben, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG steht daher einer analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen entgegen (BVerfG Beschluss vom 16. Mai 2007 - 2 BvR 2106/05 Wegen des hohen Rangs des Schutzes vor ungerechtfertigten Freiheitsentziehungen hat dies auch für übermäßig erweiternde Auslegungen zu gelten (OLG Hamburg Beschluss vom 6. Juni 2007 aaO).

Die Anwendung des Aufenthaltsgesetztes und damit der Vorschriften über die Anordnung von Abschiebungshaft gegenüber EU-Bürgern setzt nach dem klaren Wortlaut des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde in Form eines Verwaltungsakts nach § 6 FreizügG/EU voraus. Diese Feststellung ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Eine Gleichstellung der Begründung der "Altausweisungsverfügung" mit einem solchen Verwaltungsakt begegnet schon deswegen Bedenken, weil die Wertungen des Gesetzgebers zur alten und neuen Rechtslage völlig unterschiedlich waren. Mit der Neufassung des Ausländergesetzes sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine Gesamtrevision des Aufenthaltsrechts vollzogen werden, mit der das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger und deren Familienangehörigen auch inhaltlich umgestaltet und gestärkt werden sollte, indem die Regelungen der Aufenthaltsbeendigung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH präzisiert und ein über die gemeinschaftlichen Vorgaben noch weiter als bisher hinausgehender Schutz vor Aufenthaltsbeendigung für einen erweiterten Personenkreis sichergestellt werden sollte (BT-Drs. 15/420, S. 101). Diese Wertungen konnten von der Behörde im Jahr 1992 nicht angestellt werden.

Eine Auslegung des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU dahin, dass die Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus die Anwendung der Regelungen über die Abschiebungshaft auch auf "Altausweisungen" ermöglicht, widerspricht dem Grundsatz, dass sich die Voraussetzungen für einen Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unmittelbar und hinreichend bestimmt aus der Ermächtigungsgrundlage ergeben müssen. Die Anwendung des § 62 Abs. 2 AufenthG ist demnach in vorliegendem Fall ausgeschlossen (so auch OLG Hamburg Beschlüsse vom 6. Juni 2007 - 2 Wx 49/07 und 2. Oktober 2007 - 2 Wx 106/07). [...]