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Dem Kläger steht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zur Seite. [...]
Eine Erkrankung, die einer Abschiebung in der unmittelbaren Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegensteht, liegt beim Kläger vor. Ausweislich der Bescheinigungen des ... Klinikums Wuppertal vom 04. und 14. Februar 2008 wie auch der Stellungnahme der Zahnärzte Dres. ... vom 13. März 2008 erlitt der Kläger im Dezember 2007 unter anderem multiple Verletzungen des Mittelgesichts, die operativ versorgt wurden. Es erfolgte eine Osteosynthese der Gesichtsfrakturen mittels Titanplatten und -schrauben. Es wurde ferner ausgeführt, dass die Notwendigkeit bestehe, die Implantate zur Vermeidung schwerwiegender Komplikationen etwa ein halbes Jahr später, wenn die knöchernen Frakturen stabil durchbaut seien, zu entfernen. Da für diese Operation ein spezielles Instrumentarium erforderlich sei und sterile Bedingungen zur Verhinderung einer Knocheninfektion vorzuherrschen hätten, sei es üblich, dass die Institution, die die Implantate eingesetzt habe, diese auch wieder herausnehme. Diese nötige Folgeoperation steht noch aus. [...]
Durch das unzureichende Sozialversicherungssystem und die Budgetrestriktionen eines Entwicklungslandes ist das marokkanische Gesundheitssystem generell unterfinanziert und unterliegt in vielen Bereichen Rationierungseffekten. Eine medizinische Grundversorgung ist jedoch zumindest in den Städten in den meisten Fällen gesichert. Theoretisch besteht auch die Möglichkeit einer kostenlosen medizinischen Versorgung. Sofern der Betroffene seine Mittellosigkeit nachweist, trägt er zumindest in den öffentlichen Polikliniken keine weiteren Kosten. In Notfällen wird dort häufig sofort geholfen und die Klärung finanzieller Fragen verschoben. Die für Mittellose vorgesehene kostenfreie Krankenversorgung wird jedoch durch ein kompliziertes Prozedere bei der Armutsbestätigung und durch mitunter unzureichend ausgestattete Medikamentedepots der Polikliniken erschwert. Der Zugang zu komplizierteren Behandlungen erfordert daher häufig einen eigenen Finanzbeitrag (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko vom 11. Juli 2007 (Stand: Juni 2007), S. 18).
Im vorliegenden Fall geht es nicht um eine medizinische Grundversorgung, sondern um eine aufwändige Gesichtsoperation, die lediglich in ausgewiesenen Kliniken durchgeführt werden kann. Da die medizinisch notwendige Entfernung der eingebrachten Implantate auch nicht im Rahmen einer Notfallversorgung erfolgen würde, ist mit Blick auf die Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes anzunehmen, dass der mittellose Kläger die Kosten für den komplizierten Eingriff wie auch für weitere ärztliche Behandlungen im Rahmen der Nachsorge selbst aufbringen bzw. sich daran finanziell beteiligen müsste, was ihm jedoch nicht möglich wäre.
Unabhängig davon ist dem Kläger auch in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - und damit über den nach Satz 2 der Vorschrift begrenzten Anwendungsbereich hinaus - Schutz vor Abschiebung zu gewähren. Denn er würde unmittelbar nach seiner Rückkehr aufgrund der in dem Zielstaat herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) in eine extreme Gefährdungslage geraten, die ihn mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit dem sicheren Tode oder schwersten Verletzungen ausliefern würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger in Kürze sein 62. Lebensjahr vollenden wird und sich wegen der Folgen des Übergriffs auf ihn sowie - nach dem Eindruck des Gerichts - auch aufgrund seiner schwierigen Lebensverhältnisse in den letzten Jahrzehnten in so einem schlechten Allgemeinzustand befindet, dass er aller Voraussicht nach einer Erwerbstätigkeit nicht mehr wird nachgehen können. Hinzu kommt, dass er niemals eine Schule besuchte oder einen Beruf erlernte und daher ungebildet ist (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das erkennende Gericht vom 18. April 2007, derzufolge die Lage auf dem marokkanischen Arbeitsmarkt ohnehin schwierig sei).
Zudem ist der Kläger alleinstehend. [...] Das Gericht kann auch nicht davon ausgehen, dass das Überleben des Klägers im Falle seiner Rückkehr unter Inanspruchnahme von Hilfe gemeinnütziger Organisationen in Marokko, wo es ein mit der deutschen Sozialhilfe bzw. Grundsicherung vergleichbares System der staatlichen Unterstützung nicht gibt und der Verband der Großfamilie unverändert die entscheidende Rolle bei der
Betreuung Bedürftiger spielt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko vom 11. Juli 2007 (Stand: Juni 2007), S. 18; ferner Auskunft des Auswärtigen Amtes an das erkennende Gericht vom 18. April 2007) gesichert wäre. Denn umfangreiche Recherchen der Kammer haben nicht ergeben, dass es Hilfsorganisationen gibt, die für das Auskommen mittelloser alleinstehender älterer Herren sorgen (vgl. demgegenüber Auskunft des Auswärtigen Amtes an das erkennende Gericht vom 18. April 2007, wonach es nichtstaatliche Organisationen gibt, die sich um unehelich geborene Kinder und deren Mütter kümmern, indem sie Kinderbetreuung anbieten wie auch bei medizinischen und juristischen Problemen unterstützen; ferner Auskünfte des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts Hamburg an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vom 15. Juni 1999 und 06. Juni 1999 zum - unzureichenden - Jugendfürsorgesystem in Marokko).
Nach alledem war der Klage im tenorierten Umfang stattzugeben.