VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 K 350/06 - asyl.net: M14889
https://www.asyl.net/rsdb/M14889
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Zuwanderungsgesetz, Anerkennungsrichtlinie, Richtlinienumsetzungsgesetz, Drei-Monats-Frist, Fristbeginn, Kenntnis, Verfahrensbevollmächtigte, Zurechnung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Krankheit, psychische Erkrankung, depressive Episode, medizinische Versorgung, Sunniten, Sicherheitslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 ABs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Stellt ein Ausländer nach der Rücknahme oder der unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist nach § 71 Abs. 1 AsylVfG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. [...]

Der Kläger hat die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG jedenfalls nicht innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG dargelegt.

Eine Änderung der Rechtslage ist seit dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens in zweifacher Hinsicht eingetreten.

Zum einen wurde § 51 Abs. 1 AuslG durch § 60 Abs. 1 AufenthG abgelöst. Diese Vorschrift trat am 01.01.2005 in Kraft. Der Folgeantrag wurde am 10.03.2005 vom vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers, der ihn auch im Gerichtsverfahren aus dem ersten Asylverfahren vertreten hatte, gestellt. Der Kläger bzw. sein vormaliger Prozessbevollmächtigter haben sich aber nicht auf einer Änderung der Rechtslage berufen. Dies hätte nahe gelegen. Denn die Abweisung der Klage im ersten Asylverfahren wurde wesentlich damit begründet, dass der Kläger keine politische Verfolgung zu befürchten habe, weil es keine staatlichen Strukturen gebe, von den denen eine Verfolgung ausgehen könne. Nach Inkrafttreten des § 60 Abs. 1 AufenthG hätte der Kläger aber auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Verfolger geltend machen können. Dies hat er aber nicht getan. Er hat sich zu diesem Zeitpunkt nur auf seine gesundheitliche Situation berufen.

Zum anderen hat die Rechtslage aufgrund der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling oder als Person, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29.04.2004 (ABl. L 304 S. 12) - Qualifikationsrichtlinie - QualfRL - eine Änderung erfahren. Diese trat aber schon mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist nach Art. 38 Abs. 1 QualfRL am 11.10.2006 ein. Der vormalige Prozessbevollmächtigte des Klägers, der zuvor am 17.05.2006 Klage erhoben hatte, hat darauf nicht reagiert. Vom Kläger selbst kann eine Kenntnis vom Ablaufen der Umsetzungsfrist und deren rechtliche Folgen allerdings nicht erwartet werden.

Die Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie in das Aufenthaltsgesetz ist durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.07.2007 (BGBl. I Seite 1970) erfolgt. Dieses Gesetz ist am 28.08.2007 in Kraft getreten. Das Schreiben des jetzigen Prozessbevollmächtigten des Klägers ging innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beim Verwaltungsgericht ein. Er setzt sich aber nicht damit auseinander, ob sich durch das Inkrafttreten dieses Gesetzes die rechtliche Lage zugunsten des Klägers geändert hat. Dies ist auch nicht erkennbar, da die Qualifikationsrichtlinie in diesem Punkt zumindest weitgehend durch § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner ursprünglichen Fassung umgesetzt worden war.

Eine Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers ist nicht dargelegt. [...]

Die Voraussetzungen des § 51 VwVfG liegen auch in Bezug auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. [...]

Der Kläger hat aber einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist dieses Ermessen in Bezug auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugunsten des Klägers auf Null reduziert. [...]

Nach dem ärztlichen Attest der ..., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in ... vom 24.10.2008 leidet der Kläger derzeit an einer mittelgradigen depressiven Störung (ICD 10: F 33.1). Die aktuelle Therapie besteht danach in einer medikamentösen Behandlung sowie in regelmäßigen stützenden und entlastenden Gesprächen. Die regelmäßige psychiatrische Behandlung sei unabdingbar notwendig, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu vermeiden und um eine Stabilisierung zu erreichen. Ohne ausreichende therapeutische Versorgung sei zu befürchten, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers verschlechtere und möglicherweise auch suizidale Gedanken und Impulse auftreten können.

Das Gericht teilt die Auffassung aus diesem Attest. Es ist nachvollziehbar, dass diese Erkrankung ihre Ursache in dem Schicksal hat, das der Kläger für sich bei einer Rückkehr in den Irak erwartet. Der Kläger wäre bei einer Rückkehr in den Irak besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt, da seine Furcht um seine körperliche Unversehrtheit wegen seiner Mitgliedschaft in der Baath-Partei und seiner Tätigkeit für die Baath-Partei angesichts der Sicherheitslage im Irak nachvollziehbar ist. Nach dem Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 04.12.2007 "Irak - zur Gefährdung für frühere Führungs- und/oder Parteikader der Baath-Partei seit 2003" vom 04.12.2007 ist es durchaus möglich, dass Personen wegen ihrer früheren Baath-Mitgliedschaft oder tatsächlicher bzw. vermeintlicher Aktivitäten in diesem Zusammenhang Ziel von Belästigungen, Drohungen, Anschlägen und Attentaten werden. Darüber hinaus ist die Furcht des Klägers auch deshalb nachvollziehbar, weil er der sunnitischen Religion angehört, deren Mitglieder vielfach Opfer von Anschlägen geworden sind, ohne dass im vorliegenden Zusammenhang darauf ankommt, ob die Verfolgungsdichte einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure erreicht (vgl. zum Vorliegen einer Gruppenverfolgung der Sunniten: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 14.11.2007 - 2 3 B 07.30494 - Juris). Der irakische Staat ist nicht in der Lage, seine Bürger vor solchen Bedrohungen zu schützen. Diese Umstände können zwar nicht zur Gewährung eines weitergehenden Schutzes des Klägers geprüft werden, da die Voraussetzungen für ein asylrechtliches Folgeverfahren nicht vorliegen. Sie sind aber nicht ohne Bedeutung für die Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, da sie die Ursachen der psychischen Erkrankung des Klägers nachvollziehbar machen.

Es ist nicht erkennbar, dass die Ursache auch auf Erlebnissen des Klägers vor seiner Flucht beruht. Der Kläger hat dazu nichts vorgetragen. Er führt seine Krankheit nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vielmehr auf die ihm nach seiner Einschätzung drohende Gefahr wegen seiner Tätigkeit für die Baath-Partei bei einer Rückkehr in den Irak zurück.

Das Gericht geht aufgrund der vorangestellten Überlegungen und des Attestes der davon aus, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers bei einer Rückkehr in den Irak erheblich verschlechtern wurde, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass seine Krankheit dort ausreichend weiterbehandelt werden kann. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum Irak vom 06 10 2008 (Seite 29) ist die medizinische Versorgung angespannt. Die Primary Health Center sind nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Nach dem Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 14.08.2008 "Irak Update Aktuelle Entwicklungen" (Seite 25) fehlt es in den 48 Spitälern und den 672 Gesundheitsstützpunkten an grundlegenden Medikamenten und Ausrüstung. Pflegepersonal und medizinischen Assistenten mangelt es an Ausbildung, Ärzten an Spezialausbildung. [...]