BlueSky

VG Gießen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 K 2031/08.GI.A - asyl.net: M14895
https://www.asyl.net/rsdb/M14895
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Oppositionelle, exilpolitische Betätigung, Regimegegner, Menschenrechtslage, Damaskus-Erklärung, Demokratische Versammlung, Djabat el Khalass, Email, Überwachung, Internet, Überwachung im Aufnahmeland, Veröffentlichung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[....]

Dem Kläger steht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) ein Anspruch auf die Feststellung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1, 4, 5 und 6 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der QualRL und § 31 Abs. 2 AsylVfG wegen eines für ihn hinsichtlich Syrien bestehenden Abschiebungsverbotes zu. [...]

Dabei hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger als aktiver politischer Oppositioneller bereits vor seiner Ausreise konkret drohenden Verfolgungshandlungen der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Art ausgesetzt war.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) lässt sich eine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung nicht feststellen. Vielmehr muss der Kläger zur Überzeugung des Gerichts befürchten, bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund seiner Aktivitäten in Syrien, seiner öffentlichkeitswirksamen Kritik an der syrischen Regierung in Deutschland, die seine Verbindung zur demokratischen Opposition im Heimatland und im Ausland dokumentiert, von den syrischen Sicherheitsdiensten aus politischen Gründen verfolgt zu werden.

Diese Einschätzung gewinnt das Gericht aufgrund der Situation in Syrien, wie sie sich nach der Auskunftslage darstellt:

Mit dem seit 1963 bestehenden Ausnahmezustand wurden die rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung weitgehend außer Kraft gesetzt. Die mit dem Amtsantritt von Präsident Bashar Al-Assad im Jahr 2000 verbundene Hoffnung auf Entwicklung einer Zivilgesellschaft und einer Öffnung des Landes wurde weitgehend enttäuscht. Neben dem Präsidenten und seinem direkten Umfeld bestimmen vor allem die Sicherheitsdienste die Geschicke des Landes. Sie sind weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen. Die Sicherheitsapparate sind verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit wird von staatlichen Behörden in keiner Weise respektiert. Die Opposition ist strikter Kontrolle und Repression unterworfen. Das Justizsystem ist geprägt von Korruption und steht unter dem maßgeblichen Einfluss der Sicherheitsbehörden. Mit dem Notstandsgesetz von 1963 wurden Sondergerichte eingeführt. Die Militärgerichte und das Oberste Staatssicherheitsgericht dienen der Verfolgung von Demokraten und Islamisten und halten rechtsstaatliche Mindeststandards nicht ein (AA, Lagebericht vom 05.05.2008, S. 4).

Es ist festzustellen, dass sich die Menschenrechtssituation in Syrien seit 2006 weiter verschlechtert hat. Von den politisch begründeten Verhaftungen waren vor allem die demokratische Opposition, politisch engagierte Vertreter der Zivilgesellschaft, Kurden sowie Personen mit "islamischem Hintergrund" betroffen. Menschenrechtsaktivisten, Angehörige von Menschenrechtsgruppierungen, Schriftsteller, Studenten und Linke, Journalisten, Rechtsanwälte, Parlamentsmitglieder, Dissidenten und Regimekritiker wurden schikaniert, befragt, verhaftet, nach unfairen Gerichtsverfahren streng verurteilt oder an der Ausreise ins Ausland gehindert oder bei ihrer Rückkehr festgenommen. Die Situation für den genannten Personenkreis hatte sich vor allem nach der "Damaskus-Erklärung" von Oktober 2005 und nach der Beirut-Damaskus-Erklärung vom Mai 2006 verschlechtert. Die syrische Führung leitete nach Bekanntwerden der beiden Erklärungen eine Kampagne gegen Regimegegner ein (Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Menschenrechtssituation in Syrien, Januar 2008, m.w.N., S. 1-3).

Bei der "Damaskus-Erklärung" handelt es sich um ein Programm zum Wandel Syriens in eine demokratische und rechtsstaatliche Republik. Gefordert wird die Aufhebung des Notstandsrechts und die Freilassung politischer Gefangener. Nach einer Versammlung mit 163 Teilnehmern am 1. Dezember 2007 in Damaskus und der Schaffung von Organisationsstrukturen der Bewegung, die sich nunmehr "Nationalversammlung der Damaskus-Erklärung" nennt, kam es zu einer landesweiten Verhaftungswelle. Viele der Verhafteten wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen, 13 Mitglieder blieben in Haft. Gegen elf führende Mitlieder, darunter der ehemalige Abgeordnete ..., wurde ein Gruppenverfahren wegen Staatsschutzdelikten eröffnet. Herr ... ist Träger des Menschenrechtspreises der Stadt ... und war erst Anfang 2006 aus einer vorherigen Haft entlassen worden (AA, Lagebericht vom 05.05.2008, S. 7, 8; Bundesamt a.a.O., S. 3, 25). Am 29.10.2008 sind sie zu jeweils zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden (Bericht der NZZ vom 30.10.2008).

Das Gericht hat sich in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gebildet, dass der Kläger zum gefährdeten Personenkreis gehört. Der Kläger war nach seinen glaubhaften Bekundungen, die vom Zeugen ... bestätigt wurden, als Verbindungsmann damit betraut, einzelne Zellen der unter einem Dach vereinigten Parteien der demokratische Opposition über die Dachorganisation "Demokratische Versammlung", die im Ausland als "Djabat el Khalass" (Front für Befreiung, im Folgenden: Front), bezeichnet werde, zu informieren und diese Versammlung im Inland zu organisieren. [...] Weiterhin bekundete der Zeuge, bemerkt zu haben, dass der Internet-Kontakt mit dem Kläger mitten im Dialog abgerissen sei. Die von der Ehefrau glaubhaft geschilderten Belästigungen und Bedrohungen ihrer Person im Zusammenhang mit ihrem Ehemann nach dessen Verschwinden belegen zudem, dass die Sicherheitsbehörden ein erhebliches Interesse am Kläger hatten. Das Gericht geht daher davon aus, dass entweder Beweise gegen den Kläger vorlagen, denn die syrischen Geheimdienste überwachen den email-Verkehr umfassend (AA, Lagebericht vom 05.05.2008, S. 9) oder der Kläger, ebenso wie sein Bruder ... einer intensiven Befragung, verbunden mit einer längeren Haft ausgesetzt gewesen wäre. Das Gericht kann sich auch vorstellen, dass der Kläger unter Anwendung von Zwang und Folter seine Verbindung zu den Mittelsmännern nicht hätte verheimlichen können, was dann mit Sicherheit Haft von unbestimmter Dauer und Misshandlungen nach sich gezogen hätte. Hierbei fällt zusätzlich ins Gewicht, dass der Kläger aus einer sehr politischen Familie stammt und nach seinen ebenso glaubhaften Bekundungen seit 1990 ins Blickfeld der syrischen Sicherheitsbehörden geraten ist und bereits zwei Mal über längere Zeit inhaftiert war.

Ist der Kläger demnach vorverfolgt ausgereist, käme eine Versagung der Flüchtlingseigenschaft nur in Betracht, wenn an seiner Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in sein Heimatland keine ernsthaften Zweifel bestünden. Davon kann jedoch aufgrund der Situation in Syrien und insbesondere der für die syrischen Stellen wahrnehmbaren Fortsetzung und Entfaltung weiterer Aktivitäten des Klägers nach seiner Ankunft in Deutschland nicht ausgegangen werden. Unter dem Namen des Klägers sind im Internet wiederholt Artikel veröffentlicht, die inhaltlich einen Bezug zu den von der demokratischen Opposition, namentlich der "Nationalversammlung der Damaskus-Erklärung" verfolgten Zielen erkennen lassen. Gemeinsames Ziel ist es, einen Weg zu einer friedlichen Veränderung des Systems in Syrien hin zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu finden. Wie der Zeuge ... bekundete, handelt es sich bei der Front tatsächlich um die Organisation der vorgenannten Versammlung im Ausland, die Front stehe insoweit auch in ständigem Kontakt mit dem europäischen Parlament und der deutschen Regierung.

Nach der Auskunftslage reagieren die syrischen Stellen aus Furcht vor innerer Instabilität äußerst empfindsam auf Demokratisierungsbestrebungen, insbesondere gegen Einmischung von außen (AA, Lagebericht vom 05.05.2008, S. 5); so wurden allein Aktivisten, die an die Demokratie und Menschenrechte betreffenden Veranstaltungen im Ausland teilnahmen, bei ihrer Rückkehr festgenommen (Bundesamt, a.a.O., S. 19) Die Kontakte der Demokratiebewegung zum europäischen Ausland dürften daher noch erschwerend ins Gewicht fallen. Weiterhin ist der syrische Geheimdienst, insbesondere an Informationen über Verbindungen der oppositionellen Gruppen untereinander interessiert (Deutsches Orientinstitut, Gutachten vom 07.09.1998 an VG Osnabrück). Die syrischen Sicherheitsbehörden werden nach Einschätzung des Gerichts das von der Front ausgehende Bedrohungspotential um so höher einschätzen, als gerade der Zusammenschluss die bisher eher gespaltene Opposition stärken dürfte.

Dabei ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass den syrischen Sicherheitsdiensten die unter dem Namen des Klägers im Internet veröffentlichten Artikel bekannt geworden sind. Der syrische Geheimdienst hat ein erhebliches Interesse an im Ausland lebenden syrischen Staatsbürgern und deren Aktivitäten. Solche Aktivitäten, die einen konkreten Bezug zu Syrien aufweisen, eine gewisse Öffentlichkeit erreichen und darauf angelegt sind, in irgendeiner Form auch nach Syrien hineinzuwirken, können nach Rückkehr zu staatlichen Repressionen führen. Insbesondere kommen die Straftatbestände der "Verbreitung falscher oder übertriebener Informationen im Ausland" und der "Beschädigung des Ansehens Syriens im Ausland" zur Anwendung (AA, Lagebericht vom 05.05.2008, S. 14). Das Internet wirkt - hinsichtlich bestimmter arabischer oder kurdischer Web-Seiten - nach Syrien hinein und wird insoweit staatlich überwacht (AA, a.a.O., S. 6, 9; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 16.01.2005 und vom 6.09.2005 an VG Magdeburg). Syrien betreibt ein sehr intensives Internet-Filtering, d. h. es werden von den beiden Monopolisten, die internetprovider-Dienste anbieten, Websites, die sich aus oppositioneller Sicht mit der Situation in Syrien beschäftigen, gefiltert. Dabei ist davon auszugehen, dass oppositionelle Internetpublikationen, auch wenn sie nicht nach Syrien gelangen können, weil sie herausgefiltert werden, den syrischen Behörden bekanntwerden und daher eine Gefährdung bei unterstellter Rückkehr nach Syrien ermöglichen (Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 20.03.2006 an VG Bayreuth; AA, Auskunft an VG Magdeburg vom 26.03.2008). [...]