VG Arnsberg

Merkliste
Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 03.11.2008 - 3 K 434/06.A - asyl.net: M14900
https://www.asyl.net/rsdb/M14900
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Vergewaltigung, sexuelle Gewalt, Frauen, fachärztliche Stellungnahme, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie hat einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Kosovo. [...]

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fest, dass die Klägerin an einer behandlungsbedürftigen PTBS leidet. Wie Frau Dipl.-Psych. ... - an deren Sachkunde das Gericht keinen Zweifel hat - auch von der Beklagten sind insoweit keine Bedenken erhoben worden -, unter anderem in ihrer psychologischen Stellungnahme vom 13. Juni 2008 darlegt, ist auf Grund der Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass sie (die Klägerin) 1996 im Kosovo von mehreren Männern (Angehörigen serbischer Sicherheitskräfte) u.a. vergewaltigt worden ist und dadurch ein Trauma im Sinne des A-Kriteriums nach DSM-IV erlitten hat.

Soweit die Beklagte die Verwertbarkeit der o.g. Stellungnahme in Abrede stellt, weil das Trauma angeblich nicht genau genug bzw. nicht mit der gebotenen kritischen Distanz herausgearbeitet worden sei, teilt das Gericht diese Auffassung nicht. Die genannte Diplompsychologin hat ihre o.g. psychologische Stellungnahme im Rahmen eines förmlichen Beweisverfahrens zu einem Zeitpunkt abgegeben, als sie die Klägerin nicht mehr behandelte (seit Anfang 2008). Bereits insoweit ist nicht erkennbar, dass sie die ihr im Beweisbeschluss vom 26. März 2008 zu 1. a) und 2. gestellten Fragen, die sich gerade auf das A-Kriterium bezogen, nicht mit der erforderlichen Gewissenhaftigkeit oder Neutralität beantwortet haben könnte. Wesentlich kommt hinzu, dass sie diese Fragen (zusammengefasst: aufgrund welcher Angaben der Klägerin davon auszugehen sei, dass sie in glaubhafterweise ein Trauma erlitten habe) ausführlich und schlüssig beantwortet hat. Insbesondere hat die Psychologin ausgeführt, dass die Aussagen der Klägerin in den psychotherapeutischen Sitzungen bei verschiedenen Gelegenheiten und Zeiten - die in der Stellungnahme im einzelnen aufgeführt werden - widerspruchsfrei waren und insoweit als konsistent eingestuft werden konnten, dass ihr, der Klägerin, Verhalten bei der Schilderung ihrer Erlebnisse bzw. bei der Behandlung der Thematik (u.a. nicht beherrschbarer Schluckauf, Unruhe, vgl. o.g. Stellungnahme, S. 2 und 3) hierzu "passten" sowie, dass eine Übereinstimmung der Aussage zu dem traumatischen Ereignis mit den Ausformungen der Symptomatik bestand. Diese von der Psychologin in Bezug genommenen Kriterien werden in der Fachliteratur als Indizien für das Vorliegen einer nicht vorgetäuschten PTBS aufgeführt (vgl. Haenel/Wenk-Ansohn (Hrsg.), Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, 2004, 4.3.3. (S. 91 f.), so dass die im vorliegenden Fall erfolgte Einschätzung zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin auf fachlich allgemein anerkannten Grundlagen beruht und insoweit uneingeschränkt verwertbar ist. [...]

In der psychologischen Stellungnahme vom 13. Juni 2008 (S. 5) wird auch ausführlich und nachvollziehbar dargestellt, dass die Klägerin - auch mit Blick auf ihren kulturellen Hintergrund - aus Scham vor dem Jahr 2005 nicht in der Lage war, über die erlittene Vergewaltigung zu sprechen. Diese Ausführungen erscheinen plausibel. Bedingt durch Tradition, Religion - die Klägerin ist Muslimin - und soziokulturelle Eigenheiten ist die Frau in der kosovarischen Gesellschaft schlechter gestellt als der Mann. Misshandlungen und sexuelle Gewalt sind weit verbreitet, werden aber gesellschaftlich tabuisiert und von den Betroffenen aus Angst vor Repressalien oder fehlender sozialer Unterstützung durch Familie und Gesellschaft nur selten zur Anzeige gebracht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien (Kosovo) vom 29. November 2007, S. 10 f.).

Eine Vergewaltigung stellt für eine kosovarische Frau eine schwerwiegende, grundlegende Tabuverletzung verbunden mit der Gefahr dar, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden (vgl. Haenel/Wenk-Ansohn, a.a.O., S. 168 ff., Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 12. September 2007 - 8 LB 210/05 -, juris m.w.N.).

Insoweit findet sich auch eine nachvollziehbare Erklärung dafür, weshalb auf der Grundlage des 1996 stattgefundenen Traumas die Diagnose PTBS erst 2006 gestellt worden ist. Dabei ist - wie in der Stellungnahme vom 13. Juni 2008 dargestellt wird - auch zu berücksichtigen, dass bei der Klägerin offenbar bereits vor dem Jahr 2006 spezifische somatoforme Störungen bzw. Beschwerden vorlagen - wie sie bei Frauen, die sexueller Misshandlung ausgesetzt waren, oft auftreten (vgl. Haenel/Wenk-Ansohn, a.a.O., S. 167), die jedoch aufgrund des Verschweigens der Vergewaltigung vor Ärzten (auch wegen der Anwesenheit von Familienangehörigen, die dolmetschen sollten) offenbar nicht entsprechend zugeordnet werden konnten. [...]

Ob der Klägerin, die - wie dargestellt - (auch) auf eine psychotherapeutische Behandlung zwingend angewiesen ist, eine solche im Kosovo aus Kapazitätsgründen zeitnah erhalten würde, bedarf keiner Vertiefung. Denn im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass in den vorliegenden psychologischen Stellungnahmen - unter näherer Begründung - die fachliche Einschätzung vertreten wird, eine zwangsweise Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland wäre "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" mit einer Re-Traumatisierung verbunden (Dipl.-Psych. ..., Stellungnahme vom 13. Juni 2008, S. 10) und dass dann eine psychotherapeutische Intervention kaum noch möglich wäre (Dipl.-Psych. ..., Stellungnahme vom 15. März 2007). Insoweit würden die negativen gesundheitlichen Effekte aller Voraussicht nach deutlich stärker als bei der ersten Rückführung ausfallen. Hinzu kommt, dass die Klägerin aufgrund ihrer ausgeprägten Schamgefühle und fehlenden Vertrauens in die für sie extrem wichtige Einhaltung der Schweigepflicht eines Behandlers im Kosovo nach der fachpsychologischen Einschätzung der Dipl. Psych. ... vom 10. Oktober 2008 "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jede Trauma-Therapie abbrechen würde und für keine Behandlung und keine Behandlerin überhaupt mehr ansprechbar wäre" (vgl. ergänzende psychotherapeutische Kurz-Stellungnahme vom 10. Oktober 2008).

Damit liegen indessen krankheitsbedingte und mit Blick auf den bereits aufgezeigten kulturellen Hintergrund der Klägerin auch objektiv nachvollziehbare individuelle Besonderheiten vor, die im hier zu entscheidenden Einzelfall der Annahme einer zureichenden Behandlungsmöglichkeit ihrer psychischen Erkrankung im Kosovo entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund kann entgegen der Ansicht der Beklagten auch kein Zweifel daran bestehen, dass die hieraus folgenden Gesundheitsgefahren rechtlich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot betreffen. Dies gilt namentlich für die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit prognostizierte Re-Traumatisierungsgefahr, da in der Stellungnahme vom 13. Juni 2008 (S. 10) diesbezüglich ausgeführt wird, dass die Re-Traumatisierung aus der Konfrontation mit der Umgebung folge, in der die ursprüngliche Traumatisierung stattgefunden habe bzw. dass die Klägerin erneut einer Umgebung ausgesetzt wäre, in der sie alles an die traumatisierenden Erlebnisse erinnert.

Schließlich ist die in den psychologischen Stellungnahmen vertretene und im Falle der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostizierte Re-Traumatisierungsgefahr geeignet, die Annahme einer ihr bei Rückkehr alsbald drohenden extremen Gefahr für Leib und Leben zu begründen. [...]