VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 04.11.2008 - A 3 K 1894/07 - asyl.net: M14901
https://www.asyl.net/rsdb/M14901
Leitsatz:

Eine freiwillige Besuchsreise in den Herkunftsstaat spricht nicht zwingend dafür, dass die Gefahr der Retraumatisierung nicht mehr besteht.

 

Schlagwörter: Kosovo, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Änderung der Sachlage, Besuchsreise, Eheschließung, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Beweislast, freiwillige Ausreise
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Eine freiwillige Besuchsreise in den Herkunftsstaat spricht nicht zwingend dafür, dass die Gefahr der Retraumatisierung nicht mehr besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 05.09.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG, an dessen Stelle § 60 Abs. 7 AufenthG getreten ist, ist § 73 Abs. 3 AsylVfG. [...] Das Bundesamt beruft sich zur Begründung für eine Änderung der Sachlage auf die Ausreise der Klägerin in den Kosovo anlässlich der Eheschließung am 28.10.2005 in Mitrovice. Die Gefahren, die seinerzeit im Verpflichtungsurteil für den Fall der Rückkehr gesehen worden seien (erhöhte Suizidalität, akute massive, u.U. lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands) seien bei der jetzt tatsächlich durchgeführten Rückreise nicht aufgetreten. Die Klägerin habe sich offenbar in ihr Heimatland begeben können, d.h. sich freiwillig mit dem traumatisierenden Umfeld konfrontiert, ohne dass es zu einer (wesentlichen) Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes gekommen wäre. Dabei sei es unerheblich, dass die Rückkehr nicht für lange Dauer erfolgt sei. Würde die schwere posttraumatische Belastungsstörung mit den seinerzeit prognostizierten Gefahren fortbestehen, so hätten bei der Rückkehr so genannte "Trigger", d.h. sinnenhaft wahrnehmbare Eindrücke, Geräusche, Gerüche, körperliche Empfindungen oder andere, nicht sinnenhaft wahrnehmbare Auslöser die Symptome des Wiedererlebens bei der Klägerin mobilisiert und das Syndrom verstärkt. Bei fortdauernder schwerer PTBS gehe dies zwangsläufig mit einer Rückreise einher, unabhängig von der Dauer der Rückreise. Entsprechendes sei im Widerrufsverfahren nicht vorgebracht worden und demnach auch nicht eingetreten. Dies bedeute, dass die seinerzeit für den Fall der Rückkehr gesehenen Gefahren inzwischen ausgeräumt seien und die Ausländerin mit Hilfe der Therapie soweit habe gesunden können.

Damit legt das Bundesamt, das die materielle Beweislast trägt, keine Änderung der Sachlage dar. Nicht erkennbar ist, woraus das Bundesamt seine Sachkunde herleitet. Die Schlussfolgerung, dass die vorübergehende Ausreise zwecks Eheschließung, die nicht mit psychischen Folgen einhergegangen sei, belege, dass die für den Fall der Rückkehr gesehenen Gefahren inzwischen ausgeräumt seien, ist weder durch ein ärztliches Gutachten belegt noch ist ein Hinweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse erfolgt, die die Annahme des Bundesamtes stützen könnten. Aus Sicht des Einzelrichters erscheint es durchaus naheliegend, dass für die Frage, welche Folgen eine Rückkehr eines an PTBS erkrankten Ausländers in den Staat hat, in dem er die traumatisierenden und zur Erkrankung führenden Vorfälle erlebt hat, zwischen einer freiwilligen, bloß kurzzeitigen Rückkehr zwecks Eheschließung einerseits und einer erzwungenen Rückkehr auf Dauer andererseits zu unterscheiden ist. Es spricht einiges dafür, dass - anders als bei einem nur kurzzeitigen Aufenthalt, bei dem die baldige Wiederausreise gewiss ist - bei einer erzwungenen Abschiebung die psychische Zwangssituation deutlich belastender ist, weil der Betroffene aufgrund der dauerhaften Rückkehr ständig der Erinnerung an die traumatisierenden Erlebnisse ausgesetzt ist.

Im Übrigen hat die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung durchaus Probleme aufgrund der kurzen Reise in den Kosovo geschildert. Sie hat dargelegt, sie habe sich eine Woche im Kosovo aufgehalten. Sie habe nicht gedacht, dass es ihr so schwer fallen würde. Durch Medikamente und psychologische Betreuung sei es ihr aber nach der Rückkehr nach Deutschland wieder besser gegangen. Diese Ausführungen zeigen,

dass der kurzzeitige Aufenthalt im Kosovo - in psychischer Hinsicht - keineswegs folgenlos geblieben ist, die Klägerin aber ihren Gesundheitszustand durch medikamentöse und psychologische Hilfe wieder in den Griff bekommen konnte. Auch dies verdeutlicht, dass die psychische Erkrankung nach wie vor besteht.

Die Klägerin ist auch immer noch ständig in psychotherapeutischer Behandlung. [...] In der ärztlichen Bescheinigung des Dr. ... vom 04.12.2007 heißt es, die Klägerin sei weiterhin in ambulant-psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung. Die psychischen Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung mit ihren schwerwiegenden Symptomen bestünden unvermindert fort. [...]

Nach alledem mag eine Besserung in der Symptomatik eingetreten sein. Dass sich aber ihre gesundheitliche Situation so durchgreifend geändert hätte, dass nunmehr die - gerade auch vor dem Hintergrund der sie traumatisierenden Erlebnisse und der mit einer Abschiebung einhergehenden Konfrontation mit dem traumatisierenden Umfeld - im Urteil vom 21.02.2002 getroffene Feststellung, dass im Falle der Abschiebung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben der Klägerin bestünde, nicht mehr zutrifft, kann indessen nicht zur Überzeugung des Einzelrichters, angenommen werden. [...]