VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 28.11.2008 - 13 K 1719/08.A - asyl.net: M14906
https://www.asyl.net/rsdb/M14906
Leitsatz:

Sehen die Weisungslage und Verwaltungspraxis des Bundesamts die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für eine bestimmte Gruppe vor (hier: Angehöriger religiöser Minderheiten aus dem Irak), so haben Angehörige dieser Gruppe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auch wenn die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung nicht vorliegen.

 

Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Übergriffe, Islamisten, Jesiden, Zentralirak, Gruppenverfolgung, Erlasslage, Bundesinnenministerium, Gleichheitsgrundsatz, Willkürverbot, interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

Sehen die Weisungslage und Verwaltungspraxis des Bundesamts die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für eine bestimmte Gruppe vor (hier: Angehöriger religiöser Minderheiten aus dem Irak), so haben Angehörige dieser Gruppe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auch wenn die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung nicht vorliegen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Im Hinblick auf die Gewährung von Abschiebungsschutz ist die Klägerin erfolgreich. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist insoweit rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Folgeverfahrens liegen vor. [...]

Die in den letzten Monaten sich häufenden Übergriffe islamistischer Gruppierungen gegenüber Angehörigen religiöser Minderheiten stellen eine grundlegende Veränderung der Sicherheit aller Nicht-Muslime dar, die als Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anzusehen ist. Das erschließt sich unmittelbar aus dem Erlass des Bundesministeriums des Innern (BMI) vom 15. Mai 2007 (Az.: M I 4 - 125 421 IRQ/0, der nunmehr (bindend für die Verwaltungspraxis) von einer konkreten Gefährdung Angehöriger religiöser Minderheiten im Zentralirak ausgeht.

Das durchzuführende Folgeverfahren ist für die Klägerin erfolgreich. Ihr steht Abschiebungsschutz im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenhG zu.

Vorverfolgt ausgereist ist die Klägerin nicht. Insoweit kann auf das in der Sache nicht beanstandete Erstverfahren verwiesen werden. Die Klage hat auch wegen der yezidischen Religionszugehörigkeit der Klägerin keinen Erfolg. Yeziden sind nach der Rechtsprechung der Kammer nicht als Gruppe im Irak verfolgt (vgl. das Urteil der Kammer vom heutigen Tage in dem Verfahren 13 K 1365/08.A).

Die Klägerin kann nach Art. 3 Abs. 1 GG beanspruchen, wie alle anderen Yeziden aus dem Irak behandelt zu werden, die vom Bundesamt nach dem BMI-Erlass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 AufenthG erhalten. Zwar wäre in diesem Falle die Gewährung von Abschiebungsschutz für alle Yeziden nicht rechtmäßig. Auf eine nicht rechtmäßige Verwaltungspraxis aber kann sich niemand berufen, denn Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt "keine Gleichheit im Unrecht" oder - anders formuliert - keinen Anspruch auf "Fehlerwiederholung" (vgl. dazu: Scholz in Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rd.Nrn. 164 ff.).

Diese Begrifflichkeiten hält das Gericht jedoch im vorliegenden Zusammenhang für verfehlt. Die Vorgaben des Bundesinnenministeriums für die Behandlung von Angehörigen religiöser Minderheiten aus dem Irak sind kein Unrecht im vorgenannten Sinne, sie beruhen auf wohlbedachten, auch humanitär bedingten Argumenten für eine Schutzgewährung gefährdeter Bevölkerungsgruppen im Irak, auch wenn die Voraussetzungen einer so genannten Gruppenverfolgung im asylrechtlichen Sinne und damit für einen Rechtsanspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Daraus folgt zwanglos, dass nach dem Erlass und der Verwaltungspraxis zu verfahren ist, wenn sich eine Ungleichbehandlung sachlich nicht rechtfertigen lässt, mithin willkürlich erscheint. Um einen solchen Fall handelt es sich hier.

Die Beklagte verfährt offensichtlich nach dem zitierten Erlass des BMI. Das ist gerichtsbekannt, weil das Bundesamt in Fällen, in denen es sich erwiesenermaßen um Yeziden handelt, die Kläger klaglos stellt und feststellt, dass die Voraussetzungen des § 60 AufenthG vorliegen, weil es von einer Gefährdung aller Yeziden durch Islamisten im Zentralirak ausgeht. Von dieser Praxis ohne besondere Umstände im Einzelfall abzuweichen, erscheint willkürlich und führt zu einem entsprechenden Anspruch unmittelbar aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. [...]

Eine Fluchtalternative im Norden des Irak ist für die Klägerin nach der Verwaltungspraxis des Bundesamtes nicht gegeben. Das Gericht geht außerdem davon aus, dass normalerweise zwischen den Bewohnern des Gebietes westlich von Mossul und denjenigen des Nordirak keine verwandtschaftlichen Beziehungen oder andere Kontakte bestehen. Unter dem Begriff "Nordirak" versteht das Gericht in diesem Zusammenhang das "de jure" unter kurdischer Regionalverwaltung stehende Gebiet, weil die Beklagte den zitierten Erlass entsprechend handhabt, auch wenn diese Praxis erheblichen Zweifeln unterliegt und an den tatsächlichen Gegebenheiten in der Nordhälfte des Irak vorbeigeht (vgl. dazu die Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien an das VG Köln vom 29. Juli 2008. [...]