VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 27.11.2008 - B 5 K 08.30028 - asyl.net: M14910
https://www.asyl.net/rsdb/M14910
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Armenien, Armenier, Aserbaidschan, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung, Änderung, Bundesamt, Anhörung, Durchentscheiden, Staatsangehörigkeitsrecht, Existenzminimum, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. [...]

Die Abschiebungsandrohung nach Russland ist nicht allein deshalb aufzuheben, weil sie ohne gesonderte Begründung erfolgt ist und im Widerspruch zu den Ausführungen im Bescheid vom 22. April 2008 steht, wo lediglich eine Prüfung bezüglich Armenien erfolgt ist. In der Rechtsprechung wird zwar teilweise vertreten, dass eine Änderung der Zielstaatsbestimmung in der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt von Amts wegen nur erfolgen kann, wenn zuvor eine Anhörung des betroffenen Ausländers erfolgt und seitens des Bundesamtes förmliche Feststellungen zum Vorliegen der Voraussetzungen der § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG getroffen worden sind (so VG Karlsruhe, Urteil vom 15. Mai 2006, Az.: A 4 K 10788/05, InfAuslR 2006, 434 ff.; a.A. VG Stuttgart, Beschluss vom 27. Mai 2005, Az.: A 12 K 10767/05 - juris -). Die bloße Aufhebung der Abschiebungsandrohung wird dem Rechtsschutzbegehren des Klägers jedoch nicht in vollem Umfang gerecht. Das Gericht trifft gemäß § 86 Abs. 1, § 113 Abs. 5 VwGO die Verpflichtung zur Sachentscheidung. Nach der allgemein akzeptierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es bei der Prüfung von Abschiebungsverboten grundsätzlich unzulässig, dass das Verwaltungsgericht bei Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts allein die rechtswidrige Ablehnung aufhebt und die Sachentscheidung abermals der Behörde überlässt. Vielmehr hat das Gericht die Sache spruchreif zu machen, indem es die nötigen Prüfungen und Feststellungen vornimmt, und "durchzuentscheiden" (BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998, Az.: 9 C 28.97, BVerwGE 106, 171 ff.). Mit diesen Prämissen wäre es unvereinbar, wenn eine offenbar ohne Ausübung des nötigen Ermessens ergangene Entscheidung lediglich aufgehoben und in der Sache an die Behörde zurückverwiesen wird. Unter Anwendung dieser Maßgaben ist eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ausländers dann geboten, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung zu einem untragbaren Ergebnis führt und der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahr ausgesetzt wäre.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Zwar genügt allein der Umstand, dass der Kläger die armenische Staatsangehörigkeit besitzt - wovon auch das Gericht ausgeht - nicht. Dennoch hätte das Bundesamt aufgrund der zunächst angedrohten und im Bescheid ausführlich begründeten Abschiebung nach Armenien und der offensichtlichen Divergenz zwischen den einzelnen Familienangehörigen nicht ohne Weiteres eine Abänderung des Abschiebelandes verfügen dürfen. Nachdem die Eltern des Klägers nicht miteinander verheiratet sind, kann der Kläger mit seiner Geburt nicht ausnahmslos die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit vom Vater erworben haben. Die Abstammung von der armenischen Mutter ist zunächst einziger verbindlicher Anknüpfungspunkt für eine unmittelbare Vermittlung der Staatsangehörigkeit. Ein Verlust der mit Geburt erlangten armenischen Staatsangehörigkeit des Klägers aufgrund der eine Doppelstaatlichkeit ausschließenden Vorschriften der Republik Armenien würde daher voraussetzen, dass die Vaterschaft des aserbaidschanischen Vaters erwiesen und behördlich festgestellt worden wäre, was aber gerade nicht der Fall ist.

Selbst wenn man den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit bei der Geburt des Klägers ablehnen sollte, bestünde aufgrund der nunmehr feststehenden armenischen Volkszugehörigkeit beider Eltern, der armenischen Staatsangehörigkeit der Mutter sowie der Registrierung des Vaters als Flüchtling in Armenien die Möglichkeit einer Erlangung der armenischen Staatsangehörigkeit. So haben auch Flüchtlinge armenischer Volkszugehörigkeit einen Rechtsanspruch auf den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit (vgl. insofern den Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, Stand Mai 2008, vom 18. Juni 2008, S. 13), so dass selbst der gegenwärtig als staatenlos angesehene Vater des Kläger als in Armenien registrierter Flüchtling diese erlangen könnte. Nichts anderes gilt für den Kläger, sofern man nicht ohnehin - wie hier - bereits von seiner armenischen Staatsangehörigkeit ausgeht.

Die Ersetzung der ursprünglich ergangenen Abschiebungsandrohung in die Republik Armenien durch eine solche in die Russische Föderation erweist sich vor allem deshalb als untragbar, weil das Bundesamt davon ausgeht, dass wegen der zeitlichen Parallele zur erfolgten Passausstellung für die Mutter in Armenien und der Geburt der Schwester des Klägers im Jahr 1997 bezweifelt werden muss, ob die Eltern jemals im südlichen Russland gelebt haben. Danach hätte sich die Frage aufdrängen müssen, ob bei Verneinen eines früheren Aufenthalts der Eltern des Klägers in Russland eine Abschiebungsandrohung in die Russische Föderation überhaupt gerechtfertigt werden kann. Eine gewisse Skepsis gegenüber dem früheren Vorbringen der Eltern erscheint nicht aus der Luft gegriffen, zumal der Vater 1991 in Armenien als Flüchtling registriert worden ist, sich also Anfang 1991 legal in Armenien aufgehalten hat und sich die Eltern des Klägers offenbar auch dort kennengelernt haben. Das Vorbringen, der Vater des Klägers habe mit seiner Lebensgefährtin (der Mutter) seit 1990/1991 für fast ein Jahrzehnt illegal in Russland gelebt und sei dort einer dauerhaften Beschäftigung nachgegangen, scheint mit dieser Sachlage nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen. Die vom Bundesamt vorgenommene Ersetzung des Abschiebestaates Armenien durch Russland ist aufgrund dessen ohne ersichtlichen und überzeugenden Grund erfolgt.

Die Prüfung einer Abschiebung des Klägers und seiner Familie in die Russische Föderation ergibt allein anhand des Lageberichts des Auswärtigen Amtes, dass eine Aufnahme grundsätzlich nur für russische Staatsangehörige in Betracht kommt (siehe nur Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, aktualisiert im Oktober 2008, veröffentlicht am 22. November 2008). Aufgrund dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass dem Kläger und seiner Familie keine ausreichende Lebensgrundlage in Russland gesichert wäre. So kann die Ausstellung eines Inlandspasses nur von russischen Staatsangehörigen beim zuständigen Meldeamt beantragt werden; er ist Voraussetzung für eine Arbeitsaufnahme. Seit 1993 gilt außerdem ein strenges Registrierungssystem. Bürger müssen den örtlichen Stellen ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden. Voraussetzung für eine solche Registrierung ist neben der Vorlage des Inlandspasses, ein Passersatzpapier genügt nicht, nachweisbarer Wohnraum. Kaukasier - und damit auch armenische Volkszugehörige - haben allerdings größere Probleme einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter verweigern das Ausfüllen der entsprechenden Vordrucke, insbesondere um die Steuerpflicht zu umgehen. Eine medizinische Versorgung in Russland ist zwar grundsätzlich in ausreichender Weise sichergestellt. Ein Recht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung haben jedoch nur russische Bürger und selbst dann praktisch häufig erst nach privater Bezahlung.

Hierin ist eine konkrete individuelle Gefährdung im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu erkennen. [...]