VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 03.11.2008 - 3 K 883/07.A - asyl.net: M14911
https://www.asyl.net/rsdb/M14911
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, multiple Erkrankungen, Diabetes mellitus, diabetische Polyneuropathie, diabetisches Fußsyndrom, diabetische Retinopathie, Hypertonie, A. carotis interna Stenose, Kardiomegalie, KHK, LHK, coronale Gefäßerkrankung, Hyperurikämie, Niereninsuffizienz, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Familienangehörige, Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, Serbien, Ashkali
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Beide haben einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Kosovo. [...]

Hier besteht ein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens. [...]

Ausweislich der jüngsten ärztlichen Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis Dres. med. ... vom 8. Oktober 2008, an deren inhaltlicher Richtigkeit das Gericht keinen Zweifel hat und auch von der Beklagten keine Bedenken erhoben worden sind, leidet der Kläger zu 1. u.a. an folgenden Erkrankungen: Diabetes mellitus Typ II b, diabetische Polyneuropathie, diabetisches Fußsyndrom, diabetische Retinopathie (nicht proliferativ links und proliferativ rechts), Hypertonie, A. carotis interna Stenose rechts 30-50% und links 50% sowie 75% Abgangsstenose A. carotis externa rechts. Die Zuckerkrankheit hatte u.a. zur Folge, dass dem Kläger zu 1. im Jahr 2006 ein Grundglied eines Fußes amputiert werden musste und - zur Vermeidung einer Erblindung - mehrfach Netzhautlasertherapien durchgeführt worden sind. Gemäß den ärztlichen Bescheinigungen vom 15. März 2006, 17. Juli 2007 und 8. Oktober 2008 ist eine ständige ärztliche Betreuung - eine regelmäßige hausärztliche und internistisch-diabetologische sowie augenärztliche Behandlung - sowie die Gabe von Insulin nach Plan und eine umfangreiche Medikamenteneinnahme erforderlich. Damit weist der Kläger zu 1. zur Überzeugung des Gerichts ein erhebliches Krankheitsbild auf, das regelmäßiger Behandlung bedarf.

Bezüglich der Klägerin zu 2. sind u.a. folgende Krankheitsbilder ärztlich dokumentiert: Kardiomegalie u. Hypertonie, schwerste diffuse KHK, LHK: schwere coronare 3-Gefäßerkrankung; Hyperurikämie und Niereninsuffizienz. Die Klägerin zu 2. hatte bereits im April 1999 einen Herzinfarkt erlitten und 2005 wurden diverse Bypässe gelegt. Sie wird regelmäßig ärztlich - auch kardiologisch - betreut und erhält eine Reihe von Medikamenten. In der ärztlichen Bescheinigung vom 17. Juli 2007 führen Dres. med. u.a. aus, dass in den letzten Jahren bei der Patientin mehrfach Notfallbehandlungen auf Grund der schweren Herzerkrankung nötig gewesen seien. Daher müsse im weiteren Verlauf bei zu erwartender zunehmender Verschlechterung der Herzsituation mit Notfallbehandlungen gerechnet werden. Die Beklagte, der die dem Gericht vorliegenden ärztlichen Befunde bekannt sind, hat gegen die inhaltliche Richtigkeit der o.g. Befunde und ärztlichen Prognosen keine Einwendungen erhoben. Auch im Falle der Klägerin zu 2. steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass diese erheblich erkrankt ist und regelmäßiger medizinischer Behandlung bedarf.

Hiervon ausgehend könnten Zweifel bestehen, dass die erforderliche medizinische Versorgung der Erkrankungen der Kläger in der Gesamtschau der bestehenden Krankheitsbilder im Kosovo gewährleistet ist. Zwar ist mit dem Bundesamt und den im Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 14. Februar 2006 - 4 K 1374/03A - zitierten Auskünften davon auszugehen, dass im Kosovo die jeweiligen Krankheitsbilder der Kläger - jeweils für sich betrachtet - grundsätzlich insbesondere medikamentös behandelt werden können. Allerdings kann eine Augen-Lasertherapie, auf die der Kläger zu 1. zur Vermeidung einer Erblindung angewiesen ist (vgl. Dres. med. ... Bescheinigung vom 17. Juli 2007), dort offenbar nicht durchgeführt werden (vgl. Bundesamt, Loseblattwerk "Serbien und Montenegro (inkl. Kosovo) Nr. 9 Gesundheitswesen", März 2003).

Ebenso ist zumindest zweifelhaft, ob im Kosovo (heute) ein flächendeckendes Notfall-Rettungssystem zur Verfügung steht (vgl. v.g. Loseblattwerk, Stand 2004, S. 21, wonach ein solches Rettungssystem derzeit nicht bestehe).

Schließlich ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass fraglich ist, ob die von den Klägern benötigten Medikamente dort dauerhaft verfügbar sind. Im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten; inwieweit Medikamente tatsächlich verfügbar sind, lässt sich nicht genau bestimmen und kann variieren; dies gilt auch hinsichtlich Medikamente, die auf der sog. "essential drug list" des dortigen Gesundheitsministeriums stehen (vgl. Bundesamt, Online-Loseblattwerk "Serbien und Montenegro/Kosovo Nr. 9 Gesundheitswesen" vom Dezember 2005 (im Folgenden: Loseblattwerk Gesundheitswesen); Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskunft vom 10. März 2006 an das VG Berlin).

Angesichts dieser Erkenntnislage ist schon zweifelhaft, ob generell die von den Klägern zur Behandlung ihrer Krankheiten benötigten Medikamente vorhanden und die erforderliche ärztliche Betreuung im Kosovo sichergestellt wäre. Das kann aber letztlich auch dahinstehen.

Jedenfalls ist die notwendige medizinische Versorgung der Kläger unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls im Kosovo in finanzieller Hinsicht - womit sich das Verwaltungsgericht Münster im o.g. Urteil nicht zu befassen hatte - faktisch ausgeschlossen.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger die Kosten für ihre notwendige Behandlung und Medikation im Kosovo tragen können. Die 1949 und 1950 geborenen und damit bereits im fortgeschrittenen Alter befindlichen Kläger sind offenbar mittellos und erscheinen aufgrund ihrer Erkrankung als nicht arbeitsfähig, so dass sie - ungeachtet der sich ohnehin auf niedrigem Niveau befindlichen Beschäftigungslage des Kosovo - (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien (Kosovo) vom 29. November 2007 (Lagebericht), S. 17) ihren Lebensunterhalt bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht aus eigener Erwerbstätigkeit werden bestreiten können. Dass sie im Kosovo Verwandte haben, die bereit und in der Lage wären, sie zu unterstützen, ist nicht feststellbar. [...] Dass ihre hier lebenden Kinder, die erst vor Kurzem befristete Aufenthaltstitel nach § 104 a AufenthG erhalten haben, die Kläger (und ggf. ihren Bruder ... finanziell derart unterstützen könnten, dass deren medizinische Versorgung hinreichend gesichert erscheint, ist ebenfalls nicht feststellbar. [...]

Eine staatliche Krankenversicherung existiert im Kosovo nicht. Die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im öffentlichen Gesundheitswesen des Kosovo ist auch seit 2003 für die meisten Patienten in keinem Fall mehr vollständig kostenfrei (vgl. nur Bundesamt, Loseblattwerk Gesundheitswesen, a.a.O.).

Für ärztliche Behandlungen im ambulanten Bereich sind je nach Behandlung zwischen 1 Euro und 4 Euro zu leisten. Die Kostenbeteiligung des Patienten bei stationärer Behandlung beläuft sich auf 10 € täglich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 19).

Für Medikamente, die auf der "essential drug list" aufgeführt sind und früher (generell) kostenfrei bezogen werden konnten, wird nun eine Eigenbeteiligung von bis zu 2,00 Euro erhoben (vgl. AA, Lagebericht, S. 19), zumindest in Einzelfällen wohl auch darüber hinaus. Zwar sind bestimmte Personengruppen wie u.a. Empfänger sozialhilfeähnlicher Leistungen und chronisch Kranke offiziell von Zuzahlungen befreit. Selbst wenn die Kläger im Kosovo zuzahlungsbefreit würden, ist aber zu bedenken, dass (unabhängig von offiziellen Zuzahlungen vom Apotheken- oder Klinikpersonal) nicht selten (zusätzlich) gewisse "Aufmerksamkeiten" erwartet werden. Manchmal sollen auch Medikamente, die eigentlich kostenfrei abzugeben sind, ausschließlich gegen Bezahlung an Patienten abgegeben werden mit dem Hinweis darauf, sie seien derzeit in der Apotheke nicht vorrätig, könnten aber besorgt werden (vgl. Bundesamt, Loseblattwerk Gesundheitswesen, a.a.O.; Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 18 sowie den im Schriftsatz der Prozessbevollmächtigen der Kläger vom 27. Juli 2007 auszugsweise zitierten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über die medizinische Versorgungslage im Kosovo vom 24. Mai 2004).

Im übrigen könnte sich eine Befreiung von der Zuzahlungspflicht nur auswirken, solange die betreffenden Medikamente in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen tatsächlich zur Verfügung stehen, was - wie dargestellt - keineswegs immer der Fall ist. Sind Medikamente der "essential drug list" aber nicht in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen vorhanden, muss der Patient sie auf eigene Kosten in Apotheken erwerben (Vgl. Bundesamt, Loseblattwerk Gesundheitswesen, a.a.O.; Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskunft vom 1. August 2006 an das Bundesamt. [...]

Eine Verweisung der aus dem Kosovo stammenden Kläger vom Volk der Ashkali auf eine Behandlung im übrigen Gebiet von Serbien - außerhalb des Kosovo - scheidet unter den hier vorliegenden Umständen des Einzelfalles aus. Der Zugang zu den medizinischen Versorgungsleistungen im übrigen Serbien wird durch verschiedene faktische und bürokratische Hindernisse erschwert. Serbien kommt - mangels Registrierung - für die Behandlungskosten von Personen mit Wohnsitz im Kosovo nicht auf (vgl. etwa Botschaft der Bundesrepublik in Belgrad, Auskunft vom 4. Juli 2005 an das VG Köln).

Angesichts dieser Hindernisse ist es unrealistisch, dass die Kläger im übrigen Serbien eine erforderliche ärztliche Behandlung und Therapie zeitnah erhalten bzw. finanzieren könnten. [...]