Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in den Irak wegen Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung sowie für alleinstehende Frau.
Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in den Irak wegen Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung sowie für alleinstehende Frau.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. [...]
Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. [...]
Die Klägerin Ziff. 1 hat nicht glaubhaft gemacht, dass die sie und ihre Tochter vorverfolgt ausgereist sind. Insbesondere hat sich das Gericht nicht davon überzeugen können, dass die von der Klägerin geschilderte Tötung ihrer Familienmitglieder in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale erfolgte und ihr und ihrer Tochter eine Verfolgung aus politischen Gründen unmittelbar bevorstand. Die Klägerin Ziff. 1 konnte nicht angeben, wer die Täter des Überfalls auf ihre Familie gewesen sind. Ihrem Vorbringen sind auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Motive der Täter zu entnehmen. Zwar hat die Klägerin Ziff. 1 in der mündlichen Verhandlung erklärt, der Grund sei die Angehörigkeit bzw. Tätigkeit ihres Ehemanns für den früheren irakischen Geheimdienst gewesen. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Vermutung der Klägerin Ziff. 1, da sie konkrete Indizien für diese Annahme nicht nennen konnte. Im Übrigen ergibt sich hieraus nicht zwingend, dass diese Übergriffe in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale erfolgten. Vielmehr könnte auch persönliche Rache oder andere Gründe eine Rolle gespielt haben. Auch hat sie nicht glaubhaft gemacht, dass auch ihr eine Verfolgung unmittelbar gedroht hat. Der pauschale Hinweis ihres Prozessbevollmächtigten auf Sippenhaft reicht hierfür nicht aus. [...]
Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen nicht vor. Hiernach ist von der Abschiebung abzusehen, wenn der Ausländer als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien des Europäischen Union vom 28.08.2007 neu gefasst (BGBl. I, Seite 1970 f.). Die Vorschrift geht auf Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie zurück. Nach Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie gilt eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts als ernsthafter Schaden. Da die Gewährung subsidiären Schutzes nach der Qualifikationsrichtlinie regelmäßig zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führt, die Abschiebestopp-Erlasse aber nur die Aussetzung der Abschiebung und damit die Erteilung einer Duldung vorsehen, darf aus europarechtlichen Gründen nicht von der Prüfung abgesehen werden, ob sich allgemeine Gefahren im Herkunftsland zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung verdichtet haben (vgl. BVerwG, Urteile vom 24.06.2008 - 10 C 42.07, 10 C 43.07, 10 C 44.07, 10 C 45.07 -, NVwZ 2008, 1241). Abschiebestopp-Erlasse sowie die Gewährung gleichwertigen Abschiebungsschutzes stehen der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG deshalb nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen des Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind (vgl. BVerwG, a.a.O.). Dies ist indes nicht der Fall.
Es kann dahingestellt bleiben, ob davon auszugehen ist, dass in der Heimatregion der Klägerinnen willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie herrscht. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ergäbe sich hieraus keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägerinnen. Insoweit müsste zu der allgemeinen Gefahrenlage hinzukommen, dass diese sich individualisierbar in der Person des Klägers konkretisiert (vgl. BVerwG a.a.O.; Hruschka/Lindner, NVwZ 2007, S. 650 unter Verweis auf VGH Bad.-Württ, Urteil vom 02.09.1993 - A 14 S 482/93 - juris). Hierfür bestehen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Bei einer Rückkehr in den Irak wäre die Klägerin Ziff. 1 jedoch aufgrund ihrer Erkrankung schweren Gefahren ausgesetzt. Die drohende Verschlimmerung ihrer Erkrankung wegen nur unzureichender medizinischer Behandelbarkeit im Irak stellt ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar.
Nach der von ihm im Gerichtsverfahren vorgelegten psychologischen Stellungnahme der die Klägerin Ziff. 1 behandelnden Diplom-Psychologin vom 25.11.2008 leidet die Klägerin einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne persistierender traumatischer Erinnerungen und quälender Trauminhalte, klinisch relevanter Symptome einer Depression sowie einer protrahierten Trauerreaktion und dependenter Persönlichkeitstendenzen. Im Alltag leide die Klägerin unter für derartige psychische Erkrankungen typische Schreckhaftigkeit und Nervosität, innerer Unruhe und Anspannung. Durch die drohende Gefahr einer Ausweisung aus Deutschland verstärke sich diese Symptomatik im Sinne einer Retraumatisierung. Es bestehe die unbedingte Indikation einer fundierten psychotherapeutischen Langzeitbehandlung.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass bei der Klägerin Ziff. 1 die in dieser Stellungnahme geschilderten Beschwerden vorliegen.[...]
Die bei der Klägerin Ziff. 1 vorliegende psychische Erkrankung kann im Irak nicht adäquat behandelt werden. Die Klägerin Ziff. 1 benötigt nach der vorgelegten Stellungnahme eine psychotherapeutische Behandlung. Eine psychotherapeutische Behandlung ist im Irak nicht etabliert (Auskunft des Deutschen Orientinstituts an das VG Saarlouis vom 06.03.2006). Psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten stehen nur in Bagdad und einigen anderen großen Städten und auch nur in einem eingeschränkten Umfang zur Verfügung (Stellungnahme des UNHCR an das VG Ansbach vom 02.08.2005). Die Behandlung beschränkt sich dabei zumeist auf eine Klinikunterbringung und entspricht in keiner Weise derzeit geltenden medizinischen Standards, da es an qualifizierten Spezialisten fehlt (vgl. Stellungnahme des UNHCR vom 02.08.2005 an das VG Ansbach). Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin Ziff. 1 im Falle ihrer Rückkehr in den Irak wegen der nur unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten eine Verschlechterung ihrer Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Bei einer erzwungenen Rückkehr muss nach der vorgelegten Stellungnahme mit einer schwerwiegenden Verschlechterung der Symptomatik gerechnet werden.
Hinzu kommt, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak auf sich gestellt und ihnen deshalb konkreten Gefahren für Leib und Leben drohen. Frauen im Irak sind unabhängig von ihrem Alter, ihren Vermögensverhältnissen oder ihrer sozialen Stellung der Gewalt im Irak schutzlos ausgesetzt. Trotz einzelner legislativer Maßnahmen zur Verbesserung insbesondere ihrer rechtlichen Stellung hat sich die Situation der Frauen im gesamten Irak unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit seit dem Sturz der ehemaligen irakischen Regierung nicht verbessert. Mit Blick auf die alltägliche Gewalt und den hierdurch verursachten Zusammenbruch der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen im Irak, die zunehmende Hinwendung weiter Teile der irakischen Bevölkerung zu traditionellen, konservativ-islamischen Wertvorstellungen in vielen Bereichen des täglichen Lebens sowie das Fehlen einer allgemein respektierten und funktionsfähigen Verwaltung, die die formal-rechtlichen Verbesserungen effektiv umsetzen könnte haben sich die Lebensumstände für Frauen im Hinblick auf die Sicherheit, die ökonomische Situation und die Menschenrechtslage vielmehr spürbar verschlechtert und verschlimmern sich weiter (UNHCR, Stellungnahme vom 09.01.2007 an VG Köln und Hinweise vom 26.09.2007; vgl. auch Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 22.12.2006 an VG Ansbach).
Auch das Europäisches Zentrum für kurdische Studien - EKZS - berichtet, dass die Lage von Frauen, speziell von alleinstehenden Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes oder des Clans, sich aufgrund von Unsicherheit, hoher Kriminalität, ungenügendem Schutz durch staatliche Autoritäten, schlechter Infrastruktur sowie der zunehmenden Bedeutung strikter islamischer Werte, die oftmals von Milizen, Familien und Clans durchgesetzt werden, in den letzten Jahren generell verschlechtert hat. Die Bewegungsfreiheit von Frauen wurde stark eingeschränkt wegen Belästigungen und Drohungen gegen Frauen, weshalb Frauen, vor allem alleinstehende Frauen heute verstärkt auf Männer als Begleitpersonen angewiesen sind oder vielerorts erst gar nicht mehr das Haus verlassen oder verlassen können. Speziell alleinstehende Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes und Clans oder Unterstützung anderer Personen und Einrichtungen sind dann nicht in der Lage, Zugang zu grundlegenden Ressourcen ohne diese Unterstützung zu bekommen. Frauen mit Kindern werden ohne Unterstützung leicht ein Ziel für Menschenhandel und Prostitution. Auf der Suche nach Arbeit werden sie im ganzen Irak systematisch als Sexsklavinnen angeworben oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Opfer von Menschenhändlern. Aktuelle Berichte vom November 2007 über zunehmende gezielte Gewaltkampagnen gegen Frauen zur Durchsetzung islamischer Verhaltensregeln in Basra bestätigen diese Entwicklungen (EKZS, Stellungnahme vom 20.11.2007 an VG Karlsruhe).
Nach den Feststellungen des UNHCR (Stellungnahme). Frauen werden als "weichere Ziele" angesehen und erlitten Gewalt, durch die das Ansehen des gesamten, jeweils anderen konfessionellen Gruppierung beschmutzt werden solle. Zu den Urhebern gewaltsamer Übergriffe gegen Frauen zählten Milizen, Aufständische, islamische Extremisten sowie Familienangehörige der betroffenen Frauen. Frauen und Mädchen sind besonders betroffen von den spürbar zugenommenen ethnischen Spannungen, die zu einem weiteren Anstieg ethnische begründeter Gewalt geführt haben (UNHCR, Stellungnahme vom 18.12.2006). Dies führt dazu, dass viele ehemals berufstätige Frauen aufgehört haben zu arbeiten, da die andauernde Gewalt sie zwingt, zu Hause zu bleiben. Seit dem Ende des Krieges im Irak wird in Presseberichten immer wieder auf eine gestiegene Zahl von teilweise auf offener Straße verübten Vergewaltigungen und Entführungen irakischer Frauen hingewiesen (UNHCR, Bericht vom November 2005). Vor dem Hintergrund der andauernden allgemeinen Unsicherheit der hohen Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen wirtschaftlichen Not und des spürbar gesunkenen Bildungsniveaus haben Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen spürbar zugenommen. Für viele Frauen und Mädchen ist das Verlassen des Hauses und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Problem geworden. Im Zentralirak werden die Rechte der Frauen von der Sicherheitslage und der dort herrschenden Gesetzlosigkeit besonders beeinträchtigt. Zudem hält die Sicherheitslage viele Frauen davon ab, sich medizinisch versorgen zu lassen. Weiterhin ist es mittlerweile schwierig, weibliche Ärzte zu finden, was die medizinische Versorgungslage für Frauen noch erheblich weiter einschränkt (amnesty international, Stellungnahme vom 29.06.2005 an VG Köln). Von Januar 2005 bis August 2005 haben islamistische Gruppierungen allein in Mossul 20 Frauen getötet (amnesty international, Stellungnahme vom 16.08.2005 an VG Köln).
Vor diesem Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass den Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak konkrete Gefahren für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen. Die Klägerinnen wären nicht in der Lage, selbst für ihr Existenzminimum zu sorgen, und könnten sich finanziell, medizinisch und hinsichtlich des täglichen Bedarfs an Lebensmittel u.a. im Irak nicht über Wasser halten. Daneben wäre zumindest die Klägerin Ziff. 1 der Gefahr von gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Zum Einen hätten die Klägerinnen keinen männlichen Schutz, da der Ehemann und Vater der Klägerinnen getötet worden ist. Zum Anderen hätten sie auch keinen familiären Anschluss und familiäre Unterstützung, da der Rest ihrer Familie und der Familie ihres Ehemanns nach Syrien geflohen sind. Allein die Mutter der Klägerin Ziff. 1 ist offenbar in den Irak zurückgekehrt. Sie wäre aber nicht in der Lage, die Klägerinnen vor Übergriffen zu schützen und für den Lebensbedarf zu sorgen. [...]