VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 05.12.2008 - 10 K 229/08.A - asyl.net: M14938
https://www.asyl.net/rsdb/M14938
Leitsatz:
Schlagwörter: Kamerun, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Hepatitis C, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Wiederaufgreifen des Verfahrens
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

[...]

1. Im Falle der Klägerin, die (unstreitig) an einer Virushepatitis C leidet, ist ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG gegeben. [...]

Das Gericht geht zwar angesichts der ihm vorliegenden Erkenntnisse zur Verbreitung der Hepatitis C in Kamerun, wonach die Durchseuchungsrate für das Jahre 1997 auf den im weltweiten Vergleich sehr hohen Wert von 12,5 % geschätzt wurde und verschiedene in den Folgejahren für einzelne Bevölkerungsgruppe erhobene Daten darauf hindeuten, dass sich diese Rate seither nicht durchgreifend verändert hat (vgl. die vom erkennenden Gericht eingeholte Auskunft der deutschen Botschaft in Jaunde vom 01. September 2008) davon aus, dass dort bzgl. dieser Erkrankungen eine allgemein bestehende Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gegeben ist (vgl. zu derartigen Fallkonstellationen auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 07. März 2006 - 11 K247/03.A - (HIV-Infektion)).

Eine diese allgemeine Gefahr erfassende Entscheidung der zuständigen obersten Landesbehörde nach § 60 a AufenthG liegt nicht vor.

Jedoch ist eine Feststellung nach § 60 Abs. 7 AufenthG auch bei allgemeinen Gefahrenlagen möglich, ohne dass eine Entscheidung nach § 60 a AufenthG erfolgt ist, sofern eine solche Gefahr eine extreme Zuspitzung erfahren hat und ein abzuschiebender Ausländer deshalb gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre. Für diesen Fall gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Vorliegen einer allgemeinen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebungsschutz (vgl. dazu etwa die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 2006 - 1 B 60/06 - und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. März 2007 - 2 0 A 5164/04.A-, jeweils m.w.N.).

Eine derart zugespitzte Gefahrensituation liegt in Bezug auf die Klägerin vor.

Das Gericht geht dabei von folgender Lage in ihrem Heimatland aus:

Die medizinische Versorgung in Kamerun entspricht ganz überwiegend nicht dem hiesigen Standard. Insbesondere in den staatlichen Krankenhäusern bestehen erhebliche Engpässe in der Versorgung mit Medikamenten, Verbands- und anderem medizinischen Verbrauchsmaterial. Ferner sind die dortigen sanitären Einrichtungen und hygienischen Bedingungen häufig mangelhaft. Überdies müssen die Patienten bzw. ihre Familien - mangels entsprechender sozialer Sicherungssysteme - in der Regel selbst für die Kosten für ärztliche Behandlungen und Medikamente aufkommen. Im Falle einer stationären Krankenhausbehandlung müssen zudem häufig Verwandte für die Versorgung des Patienten mit Nahrungsmitteln und einen Teil der Pflege sorgen (vgl. die Berichte des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun (Stand: Oktober 2007) sowie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über das Gesundheitswesen in Kamerun (März 2006), jeweils m.w.N.).

Nach der vom erkennenden Gericht eingeholten Auskunft der deutschen Botschaft in Jaunde ist eine Behandlung der chronischen (Virus-) Hepatitis C in Kamerun nur eingeschränkt möglich und davon abhängig, ob der Patient die für die Behandlung notwendigen Medikamente wie Ribavirin und PEG-lnterferon-alpha-2b bezahlen kann. Ribavirin muss danach über eine Sonderbestellung bei einem Pharmagroßhändler aus Europa beschafft werden, da es in Kamerun nicht verfügbar ist. Interferon ist einfacher zu bekommen. 18 Millionen Einheiten kosten rund 228 Euro. Die anfallenden Kosten für der Behandlung chronischer Erkrankungen - mit Ausnahme der HIV-Infektion - müssen nach der Auskunft der deutschen Botschaft vom Patienten selbst getragen werden.

Das Gericht ist der Auffassung, dass die Klägerin angesichts dieser Lage im Herkunftsland und aufgrund der im vorliegenden Einzelfall gegebenen besonderen Umstände nicht in der Lage sein wird, in Kamerun eine adäquate Behandlung der bei ihr festgestellten Hepatitis C zu erhalten. Nach den von ihr beigebrachten medizinischen Unterlagen leidet sie unter einer (reaktivierten) chronischen Virushepatitis C. Ausweislich des aktuellsten vorliegenden Attests, das am 17. November 2008 von Frau Dr. ... ausgestellt wurde, wird die Erkrankung derzeit durch wöchentliche Injektionen mit PEG-Interferon behandelt. Ferner muss die Klägerin täglich Ribavirin einnehmen. Die Medikation muss angesichts der zum Teil erheblichen Nebenwirkungen der Medikamente engmaschig mittels Blutkontrollen überwacht werden. Das Ende der Therapie ist noch nicht abzusehen. Eine Behandlung wie sie derzeit bei der Klägerin durchgeführt werde, dauert jedoch in der Regel bis zu einem Jahr.

Wird die Klägerin nicht in der beschriebenen Weise behandelt, so drohen ihr schwere Gesundheitsschäden bis hin zur Leberzirrhose (Schrumpfung der Leber) sowie zum Leberkarzinom (Leberkrebs). Sowohl Leberkrebs als auch Leberzirrhose sind lebensbedrohliche Erkrankungen, die zu einem Leberversagen führen können. In einem solchen Fall bliebe dann als einziger Ausweg eine Lebertransplantation (vgl. dazu etwa den Aufruf der European Liver Patients Association (ELPA) vom 30. September 2005 sowie das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 29. August 2008 - 10 K 2563/07.A - (Angola)).

Die Klägerin leidet danach an einer gravierenden chronischen Erkrankung, die derzeit der regelmäßigen medikamentösen Behandlung unter ständiger ärztlicher Kontrolle bedarf und in Kamerun nur sehr eingeschränkt behandelbar ist. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstands, dass das Gericht eine ausreichende finanzielle Leistungsfähigkeit der Klägerin oder ihrer Verwandten - insbesondere ihrer Großmutter, bei der sie offenbar bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland gelebt hat - nicht feststellen kann, ist davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sein wird, sich in Kamerun die zur fachgerechten Versorgung ihrer Erkrankung erforderlichen ärztlichen Behandlungen, Laborkontrollen, Medikamente und Pflegeleistungen zu verschaffen. Sie wird daher mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit innerhalb kurzer Zeit schwerste körperliche Schäden erleiden. Sie hat daher Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG. [...]