VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 13.11.2008 - 1 K 713/08.MZ - asyl.net: M14947
https://www.asyl.net/rsdb/M14947
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylberechtigung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Menschenrechtslage, Folter, Oppositionelle, TDKP, Sympathisanten, Wehrdienstentziehung, Familienangehörige
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags begründet. Der angefochtene Bescheid vom 08. August 2008 ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung {§ 77 Abs. 1 AsylVfG) zu Gunsten des Klägers weiterhin hinsichtlich der Türkei vorliegen. [...]

Der Umstand, dass es bei einer Rückkehr in die Türkei zu Kontrollen durch staatliche Stellen kommt, führt vorliegend weder im Hinblick auf einen Anspruch auf Zuerkennung einer Asylberechtigung i.S.d. Art. 16 a Abs. 1 GG noch bezüglich einer begehrten Feststellung eines Abschiebungsverbots i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG zum Erfolg. Es droht den aus der Bundesrepublik Deutschland zurückkehrenden, erfolglos gebliebenen kurdischen Asylbewerbern bei der Einreise in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit grundsätzlich nicht die Gefahr, durch Mitglieder der Sicherheitskräfte einer die Schwelle der Asylrelevanz überschreitenden Behandlung unterzogen zu werden.

Zurückkehrende türkische Staatsangehörige werden grundsätzlich bei der Einreise kontrolliert.

Besitzen diese dann ordnungsgemäße Einreisedokumente, d.h. einen gültigen türkischen Reisepass, und liegen keine Anhaltspunkte vor, aus denen die türkischen Sicherheitskräfte auf eine Asylantragstellung und ggf. zusätzlich auf eine politische Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland schließen können, so kann dieser Personenkreis nach kurzer Zeit die Grenzkontrollen passieren. Allein der Umstand, dass den Sicherheitskräften bekannt wird, dass der Betreffende in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und/oder es sich um einen kurdischen Volkszugehörigen aus dem Osten der Türkei handelt, führt nicht zu asylerheblichen Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte. Es mögen insoweit intensivere und etwas länger andauernde Befragungen und Nachfragen bei anderen Stellen stattfinden. Führen diese jedoch zu keinen weiteren Erkenntnissen, so kann der zurückkehrende Asylbewerber ohne weitere Schwierigkeiten Weiterreisen. Etwas anderes gilt allenfalls dann, wenn sich bei einem Datenabgleich bezüglich der Einreisenden ergibt, dass diese aus asylrechtlich relevanten Gründen zur Festnahme ausgeschrieben oder in sonstigen Suchlisten aufgeführt sind. In diesem Falle muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit intensiven Verhören gerechnet werden, bei denen es in der Regel zu asylerheblichen Repressalien gegenüber dem Befragten kommt.

Reisen türkische Staatsangehörige ohne ordnungsgemäße Reisedokumente, d.h. ohne gültigen Reisepass, in die Türkei ein, so reicht allein dies nicht aus, um mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr asylerheblicher Behandlung durch die Sicherheitskräfte anzunehmen. Dies gilt sowohl dann, wenn die türkischen Sicherheitskräfte keine Anhaltspunkte dafür haben, dass der Rückkehrer in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat als auch für den Fall, dass Umstände vorliegen, aus denen die türkischen Sicherheitskräfte auf eine Asylantragstellung schließen können. Zwar wird in diesem Fall aufgrund der unzulänglichen Reisedokumente eine intensivere Befragung und ein intensiverer Datenabgleich vorgenommen werden; jedoch führen allein diese Umstände noch nicht zu asylerheblichen Repressalien. Dies gilt auch dann, wenn es sich um einen aus dem Osten der Türkei stammenden kurdischen Asylbewerber handelt. Erst wenn aufgrund der Befragung oder des Datenabgleichs weitere Umstände hinzukommen, die ein besonderes Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an der Person des zurückkehrenden Asylbewerbers begründen, ist in der Regel mit Repressalien durch die Sicherheitskräfte zu rechnen, denen von ihrer Intensität her Asylerheblichkeit zukommt (vgl. zur Rückkehrproblematik die rechtsgrundsätzlichen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz im Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG -).

In diesem Zusammenhang ist es für die zu treffende gerichtliche Entscheidung völlig unerheblich, wenn ein zurückkehrender Asylbewerber prokurdisches Propagandamaterial in seinem Reisegepäck mitführt und sich aufgrund dessen bei einer Gepäckkontrolle durch die türkischen Grenzbehörden der Gefahr aussetzt, aufgrund der gefundenen Unterlagen intensiv befragt und damit einhergehend gegebenenfalls einer asylerheblichen Behandlung unterzogen zu werden. Dies hat der Rückkehrer aufgrund seines Verhaltens und in Kenntnis der Folgen dieses Verhaltens aus freiem Willensentschluss herbeigeführt und daher selbst zu vertreten (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Oktober 1997 - A 12 S 2595/96 -).

Im Hinblick auf die Rückkehrkontrollen in der Türkei hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass trotz der zwischenzeitlichen Verfassungs- und Gesetzesänderungen zur Verbesserung der Menschenrechtslage und zur Eindämmung der Folter bei den Rückkehrkontrollen unverändert die Gefahr asylerheblicher Repressalien besteht, sofern es sich bei dem Rückkehrer um einen exponierten und Ernst zu nehmenden Gegner des türkischen Staates handelt (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. September 2008 - 10 A 10474/08.OVG -, Urteil vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05.OVG - Juris -, Urteil vom 18. November 2005 - 1 0 A 10580/05.OVG - Juris - und Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG - Juris -) .

Dabei ist vorliegend zunächst davon auszugehen, dass dem Kläger der für Vorverfolgte geltende herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu Gute zu bringen ist, da er 1989 seine Heimat als unmittelbar von politischer Verfolgung Bedrohter verlassen hat, da er als Sympathisant der TDKP bekannt war. Demnach wäre dem Kläger die Rückkehr in die Türkei nur zuzumuten, wenn für ihn die Gefahr einer ihm erneut drohenden politischen Verfolgung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könnte. Eine solche Feststellung lässt sich indessen nicht treffen. Vielmehr ist zu besorgen, dass der Kläger als nicht durch entsprechende Dokumente ausgewiesener, erfolglos gebliebener Asylbewerber bereits im Rahmen der Grenzkontrollen auffallen und einer näheren Überprüfung mit persönlicher Befragung sowie ergänzenden Rückfragen bei den zuständigen Sicherheitsbehörden überzogen wird. Hinzu kommt, dass - nach den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - in der Türkei nach ihm noch immer wegen Wehrdienstentziehung gesucht wird. Da der Kläger aus einer Familie stammt, die in ihrem Heimatort ... als politisch aktiv bekannt ist und der Opposition gegen den türkischen Staat verdächtigt wird, werden die Sicherheitskräfte bei der Wiedereinreise des Klägers bemüht sein, den Kläger wegen dieser Verbindungen genauer zu befragen und bedrängen, um so weitere Einzelheiten zu einem etwaigen politischen Engagement seiner Familie in Erfahrung zu bringen. [...]