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Die zulässige Klage ist begründet, soweit die Kläger sich auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG berufen (1.) und die Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Angola begehren (2.). [...]
Nach der Erkenntnislage stellen sich die Lebensbedingungen in Angola derzeit wie folgt dar:
Im Großraum Luanda, in dem ca. ein Drittel der Angolaner lebt, dem erweiterten Küstenstreifen, den meisten Provinzhauptstädten und im ganzen Südwesten des Landes ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln und den Gebrauchsgütern des Alltags weitgehend gewährleistet. Die Mehrheit der angolanischen Bevölkerung lebt allerdings nach wie vor am Rande des Existenzminimums und überlebt mit Subsistenzwirtschaft, Kleinsthandel oder Gelegenheitsarbeiten (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.06.2007 - Stand: Juni 2007 - S. 15). Aus dem Ausland zurückkehrende Angolaner finden dem zitierten Lagebericht zufolge in der Regel rasch Anschluss zu Menschen aus ihrer Heimatprovinz in Luanda. Es sei unwahrscheinlich, dass Rückkehrer bei Ankunft in Luanda weder auf Familie noch Freunde noch Leute aus dem eigenen Dorf zurückgreifen könnten (ebd.). Nach Einschätzung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Luanda (Auskunft vom 15.06.2006 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) lasse sich nahezu immer eine ihnen in irgendeiner Form verbundene Bezugsperson finden, die zumindest entfernt, manchmal auch gar nicht tatsächlich verwandt sei, aber die jedenfalls bereits wäre, weiterzuhelfen. Hingegen hätten Personen, die nicht auf soziale Netze zurückgreifen könnten, ernsthafte Probleme, ihr Überleben zu sichern (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 7). Die enormen Migrationsbewegungen in die städtischen Gebiete seien nicht durch Investitionen in die Infrastruktur unterstützt worden, weshalb insbesondere die Wasser- und Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet sei (ebd.).
Die Arbeitslosigkeit in Angola ist mit offiziellen 30 bis 40 % bereits hoch, liegt aber wohl in Wirklichkeit noch höher. Die Finanzierbarkeit von Medikamenten hängt von der Erlangung eines Arbeitsplatzes ab, sofern nicht der Familienverband aushilft (Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Luanda vom 29.12.2006). Psychische Erkrankungen (auch Posttraumatische Belastungsstörungen) sind nach dem Botschaftsbericht vom 07.12.2005 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Angola grundsätzlich behandelbar. Von Patienten werde in staatlichen Krankenhäusern eine geringe Kostenbeteiligung von 200 Kwanza (etwa 2 Euro) verlangt. In der Praxis könne es an staatlichen Krankenhäusern vorkommen, dass Krankenhausbedienstete - sogar Ärzte - Bestechungsgelder für die Behandlung verlangten. In staatlichen Krankenhäusern könne es zu Engpässen bei der Medikamentenversorgung kommen. In diesen Fällen müsse der Patient (oder seine Familie) die Medikamente in einer Apotheke kaufen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.06.2007, S. 16).
Für die Rückkehr von Minderjährigen stehen nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.07.2006 Aufnahmeeinrichtungen (etwa des "lnstituto Nacional da Crianga") zur Verfügung, von denen allerdings zumindest einige nur Kinder bis 14 Jahre aufnehmen. Die vom Auswärtigen Amt beispielhaft beschriebene Einrichtung war nach der zitierten Auskunft zum damaligen Zeitpunkt ausgelastet. Nach Feststellungen der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Angola sind Aufnahmeeinrichtungen für Kinder häufig überlaufen, ihnen fehlen finanzielle und personelle Mittel (Angola - Country Report an Human Rights Practices - 2007; abrufbar unter angola.usembassy.gov/angola=country_report_on human_rights_practices _2007.html). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes 2007 zufolge werden zurückkehrende unbegleitete Minderjährige nach Auskunft der staatlichen Flughafenbetreibergesellschaft von dieser in Empfang genommen und in ein Übergangsheim gebracht. Dort würden sie, bis ihre Familie ausfindig gemacht sei, vom Instituto Nacional da Crianga (INAC) weiter betreut. Nach Einschätzung des Instituts für Afrika-Kunde (Auskunft vom 12.08.2004 an das Verwaltungsgericht Oldenburg) seien ältere Kinder und Jugendliche ohne familiäre Rückbindungen, die nach Angola zurückkehrten, in besonderem Maße erheblichen Risiken für Leib und Leben ausgesetzt. Ihre Wiedereingliederung in die angolanische Gesellschaft sei extrem schwierig und mit beträchtlichen Gefährdungen behaftet. Rückkehrer ohne familiäre Rückbindungen seien häufig auf die von Hilfsorganisationen geleistete Nothilfe angewiesen, um zu überleben, die jedoch längst nicht alle Bedürftigen erreiche. Für zahlreiche Menschen hänge das Überleben daher davon ab, dass sie ihr Selbstbehauptungs- und Improvisationsvermögen entwickelten. Eine reguläre Beschäftigung zu finden sei illusorisch, groß daher das Risiko, dass Frauen und Mädchen gezwungen seien, ihren Unterhalt durch Prostitution zu verdienen. Zudem sei Gewalt gegen Frauen in der angolanischen Gesellschaft weit verbreitet (ebenso: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Angola - Update Juli 2006, S. 4).
Während die hiernach zum Teil noch immer kritische Versorgungslage in Angola eine allgemeine Gefahr darstellt, die der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG unterfällt, liegen bei den Klägern individuelle Umstände vor, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen. Nach Überzeugung des Gerichts wären die Kläger im Fall einer Rückkehr nach Angola unter den im Zielstaat herrschenden Bedingungen aufgrund der individuellen Besonderheiten ihrer Lebenslage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, ein Auskommen zu finden und alsbald lebensbedrohenden Gefährdungen ausgesetzt:
Die Kläger zu 3. und 4. können nicht damit rechnen, bei Ankunft in Luanda Unterstützung durch das INAC zu erfahren. Nach der Auskunftslage besteht die primäre Aufgabe des INAC darin, unbegleitete Minderjährige zu betreuen, bis deren Familie gefunden ist und sie bei der Suche nach Familienangehörigen zu unterstützen. Die Kläger zu 3. und 4. würden im Fall einer Abschiebung in Begleitung ihrer erwachsenen Geschwister, den Klägern zu 1. und 2., in ihr Heimatland zurückkehren, so dass voraussichtlich diese für das Überleben der Kläger einzustehen hätten.
Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit würden die Kläger jedoch nicht in der Lage sein, unter den in Angola herrschenden Umständen ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Kläger zu 1. leidet nach den Darlegungen des Sachverständigen unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dabei habe die Situation der verfrühten Übernahme der vollen Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu der Traumatisierung beigetragen. Beim Kläger zu 1. habe sich in der sog. dritten Phase der Traumatisierung - also der Zeit nach dem eigentlichen traumatisierenden Ereignis - insbesondere die Unsicherheit darüber gezeigt, ob er wieder die Rolle des Verantwortlichen für die Geschwister übernehmen müsse und ob es wieder in eine Situation zurückgehen würde, die er nicht einschätzen könne. Dabei hänge es für die Bewältigung des Traumas ganz entscheidend davon ab, wie die dritte Phase verlaufe, ob es nämlich gelinge, eine neue Verwurzelung wieder herzustellen. Für die Kläger würde allerdings der Zwang, jetzt zurückgehen zu müssen, bedeuten, dass es zu einer neuen Entwurzelung käme. Ein Abbruch von Beziehungen beeinträchtige die Fähigkeit der Kläger, selbst aktiv das Leben gestalten zu können. Bei jüngeren Kindern seien schwere Persönlichkeitsbeeinträchtigungen zu erwarten, wie zum Beispiel die Schwierigkeit, sichere Bindungen einzugehen oder auch die Unfähigkeit, später durch Arbeit den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. In Bezug auf die Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Rückführung lasse sich sagen, dass ein Herausgerissenwerden aus der hiesigen Situation die Möglichkeit einer Integration in die angolanischen Verhältnisse wesentlich beeinträchtigen würde. Berichte zeigten, dass eine Rückkehr aus Europa in afrikanische Verhältnisse schon unter "normalen" Bedingungen schwierig sei; ungleich schwieriger werde es, wenn wie hier eine Traumatisierung im Hintergrund stehe. Die Kläger würden in eine vollkommen andere Struktur zurückkehren. Die Eingliederung oder Einordnung in diese Strukturen würde unter erheblich erschwerten Bedingungen stattfinden. Es sei zu erwarten, dass die Kläger hierbei Schaden nehmen könnten; jedenfalls sei ein plötzlicher Bruch mit Sicherheit schädlich.
Unter Zugrundelegung dieser Einschätzung des Sachverständigen besitzen vorliegend die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Tatsachen. Besteht nach den Angaben des Sachverständigen beim Kläger zu 1. eine Traumatisierung und droht bei einer erzwungenen Rückführung der Kläger eine Retraumatisierung, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1. unter den schwierigen Bedingungen seines Heimatlandes in der Lage wäre, sein Überleben und das seiner Geschwister zu sichern. Ebenso wenig würden sich die Kläger zu 2. bis 4. selbst behaupten können. Nach Einschätzung des Sachverständigen kann bereits der Abbruch der hier aufgebauten Beziehungen die Fähigkeit der Kläger beeinträchtigen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Nicht nur diese Fähigkeit ist aber für ein Überleben in Angola unabdingbar, nach der Auskunftslage sind Rückkehrer aufgrund der desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt auf ihr "Selbstbehauptungs- und Improvisationsvermögen" angewiesen. Steht bei einer drohenden Retraumatisierung bereits dieses Selbstbehauptungsvermögen in Frage, so kommt für die Kläger erschwerend hinzu, dass sie ihr Land als Kinder verlassen haben, also niemals das erforderliche Improvisationsvermögen entwickeln und für sich selbst sorgen mussten. Der Kläger zu 1. als ältester der Geschwister war zu diesem Zeitpunkt gerade zwölf Jahre alt. Inzwischen halten sich die Kläger seit über sechs Jahren in der Bundesrepublik auf. Einen erheblichen Teil ihrer persönlichen Entwicklung haben sie unter europäischen Bedingungen durchlaufen; die Kläger zu 3. und 4. sind hier sozialisiert worden. Mit den Verhältnissen in Angola sind sie somit nicht vertraut. Es ist nicht ersichtlich, wie sie vor diesem Hintergrund selbständig ihr Auskommen finden könnten. Auch die hier erworbene Bildung wird ihnen bei der Suche nach einer Beschäftigung kaum von Nutzen sein können, da ihnen auf der anderen Seite der Einblick in die Verhältnisse ihres Heimatlandes fehlt. Gerade dieser aber wäre potentiellen (ausländischen) Arbeitgebern zunutze.
Es kann auch nicht angenommen werden, dass die Kläger mit familiärer Unterstützung rechnen oder Freunde oder Bekannte ihrer Eltern ausfindig machen könnten. [...]