VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 04.02.2009 - 8 AE 26/09 - asyl.net: M14961
https://www.asyl.net/rsdb/M14961
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung der Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen menschenrechtswidrigen Verhältnissen in den griechischen Asylbewerberlagern und einem nicht annähernd rechtlichen Mindeststandards entsprechenden Asylverfahren.

Schlagwörter: Abschiebungsanordnung, Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, einstweilige Anordnung, Antrag, Auslegung, Verordnung Dublin II, Drittstaatenregelung, normative Vergewisserung, Verfahrensrichtlinie, Anerkennungsrichtlinie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 27a; AsylVfG § 34a Abs. 2
Auszüge:

Vorläufige Aussetzung der Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen menschenrechtswidrigen Verhältnissen in den griechischen Asylbewerberlagern und einem nicht annähernd rechtlichen Mindeststandards entsprechenden Asylverfahren.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Der Antrag vom 23.01.2099 hat Erfolg. Bei sachgerechter Auslegung handelt es sich um einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 15.01.2009 erhobenen Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (1.). Der so verstandene Antrag ist zulässig (2.) und begründet (3.).

1. Soweit der Antragsteller vom Wortlaut seines her gemäß § 123 VwGO beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, Maßnahmen zum Vollzug des Antragstellers nach Griechenland für die Dauer von 6 Monaten auszusetzen, legt das Gericht den Antrag gemäß § 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (8 A 12/09) aus.

Bei der Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG vom 08.10.2008, die dem Antragsteller anlässlich des gescheiterten Anschiebungsversuchs nach Griechenland am 15.01.2009 zugestellt worden ist, handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt, der nach § 75 AsylVfG sofort vollziehbar ist, so dass der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gegenüber einem Antrag nach § 123 VwGO vorrangig ist.

Um einen Antrag nach § 123 VwGO handelt es sich nur, wenn - wie in den Fällen der Überstellung von Asylsuchenden im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) zumeist - zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch keine Abschiebungsanordnung bzw. lediglich ein Entwurf einer Abschiebungsanordnung vorliegt (vgl. VG Frankfurt, B. v. 06.11.2008, Az: 13 L 1645/08.A - zit. nach Juris).

Die Klage 8 A 12/09 richtet sich in Ziffer 2 des Antrags gegen die Abschiebungsanordnung vom 08.10.2008.

Der so verstandene Antrag ist zulässig. Insbesondere steht § 34a Abs. 2 AsylVfG der Statthaftigkeit des Antrags nicht entgegen.

Gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG darf eine Abschiebungsanordnung nach Absatz 1 der Vorschrift nicht nach § 80 oder 123 VwGG ausgesetzt werden. Dies ist jedoch im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG so auszulegen, dass die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG tatsächlich gegeben sein müssen, das heißt, es muss um die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) gehen. Nur wenn diese Voraussetzungen materiell-rechtlich vorliegen, nicht aber wenn ihr Vorliegen lediglich behauptet wird, kann der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes greifen. [...]

Selbst wenn es sich bei Griechenland (noch) um den im Sinne des § 27a AsylVfG für den Antragsteller zuständigen Staat handelt, ist aufgrund der derzeitigen Zustände in Griechenland einstweiliger Rechtsschutz gegen die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland in verfassungskonformer Auslegung des § 34a AsylVfG möglich.

Entsprechend der Rechtsprechung das Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (U. v. 14.05.1996, Az: 2 BvR 1938, 2315/93 - zit. nach Juris) ist die Vorschrift des § 34a AsylVfG auch im Hinblick auf die Fälle des § 27a AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen auf Grundlage der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der Überstellung in den nach europäischem Recht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer entgegen dem Wortlaut des § 34a Abs. 2 AsylVfG bzw. Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG erreichen, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist (VG Düsseldorf, B. v. 22.12.2008, Az: 13 L 1993/08; VG Gießen, B. v. 25.04.2008, Az: 2 L 201/08.GI.A. - beides zit. nach Juris; mwN). Denn Rechtfertigung des generellen Ausschlusses einstweiligen Rechtsschutzes in § 34a Abs. 2 AsylVfG ist der Gedanke des "normativem Vergewrsserungskonzeptes", nach welchem es sich bei den Mitgliedstaaten der europäischen Union per se um sichere Drittstaaten i.S.d. Art. 16a Abs. 2 GG bzw. § 26a AsylVfG handelt, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) generell sichergestellt ist, so dass der Ausländer sich nicht darauf berufen kann, in seinem Einzelfall sei dies nicht der Fall. Werden Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG allerdings durch Umstände begründet, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können, so kann der Ausländer, wenn er einen derartigen Ausnahmefall substantiiert darlegt, eine Prüfung erreichen, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen (BVerfG, a.a.O.). In diesem Fall ist § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht anwendbar, da er keine über Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG hinausgehende Regelung trifft und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht über die Grenzen hinaus reicht, die dem Konzept normativer Vergewisserung gesetzt sind.

Das Bundesverfassungsgericht nennt als Beispielsfälle für vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasste Gefährdungstatbestände die drohende Todesstrafe im Drittstaat, eine erhebliche konkrete Gefahr, dass der Ausländer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens wird, oder den Fall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung bzw. des Gesetzgebers hierauf noch aussteht (BVerfG, a.a.O.). Dem wird man eine Konstellation gleichstellen müssen, in der in einem Aufnahmeland eine Verletzung von Kernanforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) festzustellen ist, die mit einer Gefährdung des Betroffenen in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht (VG Gießen a.a.O.; VG Düsseldorf a.a.O.).

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass in Griechenland derzeit eine solche Situation besteht. Mit der Abschiebung nach Griechenland drohen dem Antragsteller unzumutbare Nachteile, nämlich menschenrechtswidrige Verhältnisse in den dortigen Asylbewerberlagern und ein auch nicht annähernd rechtlichen Mindeststandards entsprechendes Asylverfahren. Nach der dem Gericht vorliegenden Erkenntnislage leidet das griechische Asylverfahren an erheblichen Mängeln, was die Art und Weise der Bearbeitung von Asylanträgen, den Zugang zu Dolmetschern und Rechtsanwälten, die menschenwürdige Unterbringung und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen ablehnende Entscheidungen betrifft. Wegen der Einzelheiten wird verwiesen auf: Frankfurter Rundschau, Bericht vom 06.08.2008; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 19.06.2008; NZZ Online, Bericht vom 19.04.2008; UNHCR, Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung vom 15.04.2008 sowie die Darstellungen in den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. Juni 2008 - Az. A 3 K 1412/05; des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 - Az. 6 B 30/08; des Verwaltungsgerichts Gießen vom 25.04.2008 - Az. 2 L 201/08.GI.A; des VG Ansbach vom 22. Juli 2008 - Az. AN 3 E 08.30292; des VG Düsseldorf vom 22.12.2008 - Az. 13 L 1993/08.A. Nach dem Positionspapier des UNCHR vom 15.04.2008 ist insbesondere die Stellung von Flüchtlingen aus dem Irak durch eine extrem hohe Ablehnungsquote und das Fehlen von Informationen über das Verfahren und Dolmetscher gekennzeichnet.

Zwar hat die griechische Regierung zwischenzeitlich die Richtlinie 2005/85/EG (sog. Asylverfahrensrichtlinie) und die Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) in das griechische Recht umgesetzt. Der UNHCR bleibt in einem weiteren Positionspapier vom 01.12.2008 (Asylmagazin 12/2006, S. 23 f.) aber bei seiner Einschätzung, angesichts der sich noch ausweitenden Überlastungssituation sei aus Sicht des UNHCR weiterhin von Überstellungen nach Griechenland abzusehen, weil Asylsuchende, einschließlich "Dublin-Rückkehrer" in Griechenland weiterhin übermäßigen Härten ausgesetzt seien, was die Anhörung und die angemessene Bearbeitung ihrer Anträge betrifft. Aus dem Zusammenhang mit den Positionspapier vom 15.04.2008 ergibt sich, dass diese Mängel auch das Asylverfahren in zweiter Instanz betreffen, so dass es an der Einschätzung der den Kläger in Griechenland erwartenden Situation nichts ändert, dass das Asylverfahren des Klägers sich nach der Auskunft der griechischen Behörden vom 16.09.2008 in zweiter Instanz befindet. Diese Bewertung der aktuellere Situation Asylsuchender in Griechenland wird durch Herrn Kopp, Europareferant von Pro asyl, in seinem Bericht vom 13. November 2008 (Asylmagazin 12/2008, S. 24 ff.) über seine Informationsreise nach Griechenland in der Zeit vom 20. bis 28. Oktober 2008 nachhaltig gestützt.

Die Antragsgegnerin ist diesen Informationen zur tatsächlichen Situation von Asylsuchenden in Griechenland nicht inhaltlich entgegengetreten. Dass die Antragsgegnerin bei bestimmten besonders schutzbedürftigen Personen von einer Überstellung absieht, ist zwar begrüßenswert, ändert für das vorliegende Verfahren aber nichts, da der Antragsteller diesem Personenkreis nicht zugeordnet worden ist.

3. Angesichts der geschilderten den Antragsteller bei einer Überstellung nach Griechenland erwartenden Umstände erweist sich der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsanordnung vom 08.10.2008 auch als begründet. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. [...]