VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 03.11.2008 - A 11 K 6178/07 - asyl.net: M15000
https://www.asyl.net/rsdb/M15000
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Abschiebung, Rechtsschutzinteresse, Sperrwirkung, Wirkungen der Abschiebung, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Krankheit, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Familienangehörige, allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klagen sind weiterhin zulässig. Der Umstand, dass die Kläger zwischenzeitlich abgeschoben worden sind, führt nicht dazu, dass die gerichtliche Überprüfung, ob zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, entfällt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.2004, BVerwGE 122, 271). Mit der Gewährung von Abschiebungsschutz sind Rechtswirkungen verbunden, die mit dem Vollzug der Abschiebung nicht enden. Bedeutung hat in diesem Zusammenhang vor allem die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG. Eine Abschiebung, die Abschiebungsverbote missachtet und daher rechtswidrig ist, vermag eine Sperrwirkung nicht auszulösen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2002, BVerwGE 116, 378 und Urt. v. 07.12.2004 aaO.)

Die Klagen sind auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. [...]

Unter Berücksichtigung der in die mündliche Verhandlung eingeführten Erkenntnisquellen ist bereits fraglich, ob die erforderliche medizinische Versorgung im Falle der Kläger im Kosovo gewährleistet werden kann. Nach den im Bescheid des Bundesamtes vom 03.12.2007 zitierten Auskünften des deutschen Verbindungsbüros Kosovo sollen die Krankheiten der Kläger im Kosovo medizinisch behandelbar sein. Bei den Auskünften des Verbindungsbüros ist allerdings generell zu berücksichtigen, dass sie sich auf den jeweiligen medizinischen Einzelfall beziehen und die dort getroffenen Aussagen nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können (zutreffend Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 45).

Nach dem angefochtenen Bescheid sollen weiterhin die von den Klägern benötigten Medikamente/Wirkstoffe im Kosovo erhältlich sind. Auch nach den vom Gericht beigezogenen Erkenntnisquellen des Verbindungsbüros dürften die meisten von den Klägern benötigten Medikamente/Wirkstoffe im Kosovo verfügbar sein, zum Teil jedoch nur durch Bezug aus dem Ausland, wobei nach den eingeführten Auskünften des Verbindungsbüros der Patient die Kosten der Medikamente zu tragen hat. Die Botschaftsberichte des Auswärtigen Amtes (Verbindungsbüros) über die Verfügbarkeit bestimmter Medikamente können jedoch nicht verallgemeinert werden. Denn im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten; inwieweit Medikamente tatsächlich immer verfügbar sind, lässt sich nicht genau bestimmen und kann variieren (vgl. Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 43).

Ob angesichts dieser Erkenntnislage die von den Klägern zur Behandlung ihrer Krankheiten benötigten Medikamente und die erforderliche ständige ärztliche Überwachung im Kosovo erhältlich sind, ist sehr zweifelhaft, braucht vorliegend jedoch nicht weiter aufgeklärt zu werden. Denn die notwendige medizinische Versorgung der Kläger im Kosovo ist jedenfalls in finanzieller Hinsicht ausgeschlossen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger die Kosten für die notwendige ärztliche Behandlung und Medikation im Kosovo bezahlen könnten. Dieser rechtlich wesentliche Gesichtspunkt blieb im Urteil der Berichterstatterin der 19. Kammer vom 20.08.2004 unverständlicherweise völlig unberücksichtigt.

Die Kläger sind mittellos. Aufgrund ihrer Erkrankungen sind die Kläger auch nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt im Kosovo aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Angesichts einer Arbeitslosenquote von geschätzten 45 % (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien – osovo – vom 29.09.2007) ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zukünftig durch Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt beitragen könnten, abgesehen davon, dass die meisten Lohnempfänger mit einem Gehalt auskommen müssen, das nicht existenzsichernd ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Zur Lage der medizinischen Versorgung – Update 07.06.2007, S. 2). Hinzukommt, dass Angehörige der Minderheitengruppen Roma/Ashkali/Ägypter, zu denen die Kläger zählen, vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe aaO S. 3). Die Arbeitslosenquote liegt bei diesen Minderheiten deshalb bei 98 % (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Update: Aktuelle Entwicklungen, 12.08.2008, S. 20 und Stellungnahme vom 10.10.2008: Asylsuchende Roma aus Kosovo, S. 2). Zwar halten sich Verwandte der Kläger im Kosovo auf; diese können jedoch aufgrund eigener fehlender Einkünfte keine Unterstützung leisten. Die im Bundesgebiet lebenden Kinder der Kläger können die notwendige dauernde Unterstützung der Kläger nicht gewährleisten. Der Sohn und eine Tochter der Kläger sind arbeitslos und leben von Hartz IV Leistungen, die allenfalls das eigene Überleben sichern. Die Tochter ..., die bislang für die Medikamentenkosten der Kläger aufgekommen ist, hat selbst eine Familie mit zwei Kindern und nur ein Familieneinkommen von ca. 1300 Euro. Nach dem glaubhaften Vorbringen der beiden anderen Kinder der Kläger in der mündlichen Verhandlung ist die Leistungsfähigkeit von ... erschöpft. Angesichts dieser Situation kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kinder der Kläger für die im Kosovo anfallenden Kosten der Arzneimittelversorgung weiter aufkommen können.

Das Gericht sieht keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass Familienangehörige unabhängig von der konkreten Vermögens- und Einkommenssituation auch unter Zurückstellung eigener Bedürfnisse die unmittelbaren Angehörigen nach deren Rückkehr in das Kosovo in einem solchen Umfang finanziell unterstützen, der für die Deckung der Kosten der ärztlichen Betreuung und Medikamentenversorgung ausreichend sein wird. Die gegenteilige Auffassung des VG Karlsruhe (Urteil vom 17.05.2006 – A 4 K 10267/04 -) kann weder einen diesbezüglichen Erfahrungssatz in Anspruch nehmen noch nachprüfbare Belege anführen. Angesichts des Umstandes, dass sich laut Weltbank schon im Jahre 2001 28 % der Einwohner des Kosovo trotz gesundheitlicher Probleme aus Kostengründen nicht haben behandeln lassen und seitdem die Gesundheitskosten durch Zuzahlungen, Aufmerksamkeiten u.a. weiter gestiegen sind (vgl. Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 41 m.w.N.), gegenwärtig geschätzte 37 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 15 % in extremer Armut leben (vgl. Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28), entbehrt die nur auf einer Behauptung basierende Annahme des VG Karlsruhe jeglicher Plausibilität und Wahrscheinlichkeit.

Ein Krankenversicherungssystem, das die notwendigen Kosten der medizinischen Behandlung der Kläger übernimmt, existiert im Kosovo nicht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Zur Lage der medizinischen Versorgung – Update, 07.06.2007, S. 4). Von staatlichen Stellen, zwischenstaatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen erhalten Personen, die aus Westeuropa abgeschoben werden, keine Unterstützung (vgl. Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Stellungnahme vom 10.10.2008, S. 4); dies hat sich gerade auch im Falle der Kläger wieder erwiesen. Die Kläger wären und sind auch schon gegenwärtig im Kosovo völlig auf sich alleine gestellt. Die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im öffentlichen Gesundheitswesen ist seit 2003 für den Patienten nicht mehr kostenfrei. Behandlungen der sekundären (Regionalspitäler) und tertiären (Universitätsspitäler Pristina) Gesundheitsversorgung sind grundsätzlich kostenpflichtig, in der Erstversorgung wird eine Kostenbeteiligung verlangt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe Zur Lage der medizinischen Versorgung – Update, 07.06.2007, S. 13). Für einen Behandlungstermin sind zwischen 1,00 und 4,00 Euro zu zahlen, für einen stationären Aufenthalt sind es täglich ca. 10 Euro. Auch für Medikamente, die auf der "essential drugs list" des Gesundheitsministeriums aufgeführt sind und bislang kostenfrei bezogen werden konnten, wird nun eine Eigenbeteiligung von bis 2,00 Euro erhoben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien – Kosovo – vom 29.11.2007). Außerdem sind für diese Medikamente vielfach informelle Zahlungen an das Klinik- oder Apothekenpersonal zu leisten (vgl. Auswärtiges Amt, aaO; Schweizerische Flüchtlingshilfe aaO, S. 13). Selbst stationäre Patienten mussten in der Vergangenheit im Universitätsklinikum in Pristina die benötigten Medikamente, Infusionen u. a. zum vollen Preis privat in Apotheken erwerben, obwohl sie auf der "essential drugs list" aufgeführt sind (vgl. Auswärtiges Amt, aaO). Im Übrigen hat die "essential drugs list" kaum noch eine praktische Bedeutung, da die privaten Apotheken den Markt beherrschen und Medikamente nie kostenfrei abgeben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe aaO, S. 15). Sozialhilfe haben die Kläger im Kosovo bislang nicht erhalten. Ob die Kläger im Kosovo Sozialhilfe erhalten könnten, erscheint zweifelhaft, da Sozialhilfe nur bewilligt wird, wenn u.a. mindestens ein Kind im Haushalt jünger als fünf Jahre ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo, Update: Aktuelle Entwicklungen 12.08.2008, S. 17). Selbst wenn die Kläger im Kosovo aber Sozialhilfe erhielten, wären sie nicht in der Lage, ihre medizinische Versorgung zu gewährleisten. Die Sozialhilfeleistungen im Kosovo bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau; sie betragen für Einzelpersonen 35 Euro monatlich und für Familien (abhängig von der Zahl der Personen) bis zu 75 Euro monatlich und reichen damit als alleinige Einkommensquelle unter Berücksichtigung der lokalen Lebenshaltungskosten zum Leben nicht aus (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien – Kosovo – vom 29.11.2007; Lüthke in Asylmagazin 4/2007, 28). Da die Kläger eine Vielzahl von Medikamenten benötigen, die im Hinblick auf die Schwere ihrer Erkrankung als zur Abwehr einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung unerlässlich angesehen werden müssen, und sie ständiger ärztlicher Überwachung bedürfen, könnten sie selbst bei zustehenden Sozialhilfeleistungen die notwendige ärztliche Behandlung und Medikation im Kosovo nicht bezahlen. Bei den Klägern hat sich somit nach der Abschiebung in das Kosovo das Schicksal vieler Angehöriger der dort noch lebenden ethnischen Minderheiten verwirklicht, die mangels Geld sich einen Arztbesuch oder einen Krankenhausaufenthalt sowie den Kauf von Medikamenten nicht leisten können und somit ohne medizinische Versorgung bleiben (vgl. Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo, 9. Gesundheitswesen, Dezember 2005, S. 39). Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Kläger nicht in der Lage sind und sein werden, die für sie zur Abwehr einer schweren Gesundheitsgefahr im Kosovo erforderliche ärztliche Behandlung und Arzneimittelversorgung sicher zu stellen. [...]

Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Die Kläger sind nicht Teil einer Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60 a Abs. 1 AufenthG. Mit der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60 a Abs. 1 AufenthG soll erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebezielstaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1998, BVerwGE 108, 77). Danach bilden Kranke, die aus finanziellen Gründen eine ausreichende medizinische Versorgung im Heimatland nicht erlangen können, keine Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Denn den betroffenen mittellosen Erkrankten droht nicht dieselbe Gefahr. Die Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen besteht in der konkreten Weiterentwicklung der jeweiligen individuellen Krankheit. Die verschiedenen Krankheiten der mittellosen Erkrankten unterscheiden sich aber erheblich. Sinn und Zweck des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist jedoch gerade, eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle wegen der Art der Gefahr einheitlich zu entscheiden. Die in einem Land vorkommenden Krankheiten können aber nicht deshalb rechtlich gleichgestellt werden, weil die Betroffenen das Schicksal der Mittellosigkeit teilen. Der Gruppe der mittellosen Erkrankten fehlt die erforderliche Homogenität in Bezug auf die Art der Gefahr. Nicht jedem mittellosen Erkrankten muss eine erhebliche Gefahr drohen, da dieser Gruppe auch Kranke angehören können, denen bei einer Nichtbehandlung eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben nicht droht. Deshalb kann auf eine Gruppe der mittellosen Erkrankten aus dem Kosovo nicht abgestellt werden (vgl. VG Berlin, Urt. v. 25.07.2003 – 34 X 671.94 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 13.08.2003 – A 5 K 11176/03 – juris – VG Oldenburg, Urt. v. 27.01.2004 – 12 A 550/03 – juris; VG Stade, Urt. v. 18.01.2006 – 2 A 1277/02; a.A. VGH München, Beschl. v. 10.10.2000 – 25 B 99.32077 -). [...]