VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 17.12.2008 - 19 CS 08.2655 u.a. - asyl.net: M15037
https://www.asyl.net/rsdb/M15037
Leitsatz:

Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 AufenthG setzt nicht voraus, dass die Voraussetzungen für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes noch erfüllt sind; beruht ein Beschluss des Verwaltungsgerichts erkennbar auf einer unzutreffenden Rechtsgrundlage, kann das Beschwerdegericht die zutreffende Rechtsgrundlage anwenden, auch wenn der Beschwerdeführer den Mangel nicht dargelegt hat.

 

Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Niederlassungserlaubnis, Verlängerung, Aufenthaltserlaubnis, Minderjährige, Wechsel der Rechtsgrundlage, Verfahrensrecht, Beschwerde, Darlegungserfordernis, Ermessen, Bewährung, Straftat, Zusicherung, Widerruf, Ausländerbehörde, Bundesamt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 26 Abs. 4 S. 4; AufenthG § 25 Abs. 1; AufenthG § 35 Abs. 3; VwGO § 146 Abs. 4 S. 6; VwVfG § 38 Abs. 1; VwVfG § 38 Abs. 3; AufenthG § 26 Abs. 2
Auszüge:

Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 AufenthG setzt nicht voraus, dass die Voraussetzungen für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes noch erfüllt sind; beruht ein Beschluss des Verwaltungsgerichts erkennbar auf einer unzutreffenden Rechtsgrundlage, kann das Beschwerdegericht die zutreffende Rechtsgrundlage anwenden, auch wenn der Beschwerdeführer den Mangel nicht dargelegt hat.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

1. Auf der Grundlage der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen, aber auch allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist nach den von der Antragstellerseite dargelegten und vom Senat geprüften Beschwerdegründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) davon auszugehen, dass die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache offen sind und daher das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des angefochtenen Bescheides überwiegt.

a) Weder der angefochtene Bescheid vom 23. Juni 2008 noch der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 8. September 2008 setzen sich mit der Tatsache auseinander, dass der am 22. Juni 1985 geborene Antragsteller bereits als Minderjähriger gemeinsam mit seinen Eltern in das Bundesgebiet eingereist ist und demzufolge gemäß § 26 Abs. 4 Satz 4 i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 AufenthG im Hinblick auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bzw. die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis eine weitreichende Privilegierung genießt (vgl. hierzu HK-AuslR/Fränkel, 2008, RdNr 27 ff. zu § 26 AufenthG; Maor, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 4 RdNr. 774; Heinhold, ZAR 2008, 161 [169]). Vor allem haben die bisher ergangenen Entscheidungen nicht berücksichtigt, dass der Gesetzgeber minderjährig Eingereisten bereits nach fünf Jahren ein eigenständiges Daueraufenthaltsrecht zubilligt (vgl. HK-AuslR/Fränkel, 2008, RdNr. 27 zu § 26 AufenthG; Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, RdNr. 13 zu § 26 AufenthG; Burr, in: GK-AufenthG, Stand: Juni 2007, § 26 RdNr. 34; OVG Bautzen, Beschl. v. 29.3.2007 - 3 BS 113/06 -, EZAR NF 24 Nr. 1, S. 2). [...]

Vorliegend kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass dem Antragsteller auf anderer als von der Ausländerbehörde und vom Verwaltungsgericht angewandter Rechtsgrundlage ein Anspruch auf Erteilung bzw. Verlängerung des begehrten Aufenthaltstitels, zumindest aber ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht. Die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers sind daher zumindest als offen zu beurteilen. In einem solchen Fall ist deren aufschiebende Wirkung anzuordnen, um eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Hauptsacheverfahren zu ermöglichen. Dass sich der Antragsteller im Rahmen der Beschwerdebegründung weder auf § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG noch auf § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG berufen hat, steht dem nicht entgegen. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt lediglich die Amtsermittlungspflicht des Beschwerdegerichts, lässt jedoch dessen Befugnis zur umfassenden Interessenabwägung und zur vollständigen Prüfung entscheidungserheblicher Tatsachen und Rechtsfragen unberührt (vgl. BayVGH, Beschl. vom 23.01.2002 - 25 CS 02.172 -, BayVBl 2002, 306 [309]). Es wäre untragbar, wenn eine erkennbar auf unzutreffenden Rechtsgrundlagen beruhende Entscheidung nur deshalb aufrechterhalten werden müsste, weil der Beschwerdeführer den Mangel nicht dargelegt hat. Insoweit ist eine teleologische Reduktion des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO geboten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., 2007, § 146 RdNr. 43; Happ, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., 2006, § 146 RdNr. 27).

Nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG kann einem – inzwischen volljährig gewordenen – Ausländer, der seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ist, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und dessen Lebensunterhalt gesichert ist, abweichend von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden (vgl. hierzu auch Heinhold, ZAR 2008, 161 [169]). Die Regelung geht als lex specialis sowohl einer Anwendung von § 26 Abs. 4 Sätze 1 – 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 AufenthG als auch einer unmittelbaren Anwendung des § 9 AufenthG vor, da der betroffene Personenkreis die vom Gesetzgeber gewollte Aufenthaltsverfestigung (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 80) ansonsten nicht erreichen könnte.

Ein solcher Anspruch ist zwar dann nicht gegeben, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt wurde (vgl. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Gleichwohl ist auch in diesen Fällen die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht ausgeschlossen, vielmehr hat die Ausländerbehörde gemäß § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob sie die Niederlassungserlaubnis erteilt oder die Aufenthaltserlaubnis verlängert (vgl. Heinhold, ZAR 2008, 161 [169]). Ist die Freiheitsstrafe hingegen zur Bewährung ausgesetzt, so ist die Aufenthaltserlaubnis nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers in der Regel bis zum Ablauf der Bewährungszeit zu verlängern (vgl. § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Darin liegt eine weitere – im vorliegenden Fall entscheidende – Privilegierung. Während bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis nicht erteilt werden kann, ist dies nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG durchaus möglich. Übt die Ausländerbehörde ihr Ermessen zuungunsten des Beschwerdeführers aus, so muss sie in der Regel zumindest die Aufenthaltserlaubnis verlängern, sofern die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde (§ 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Damit will der Gesetzgeber sicherstellen, dass auch dem delinquenten Antragsteller die Chance auf eine spätere Verfestigung seines Aufenthalts erhalten bleibt. Vereinzelte leichtere Straftaten, die lediglich mit Jugend- oder Freiheitsstrafe mit Bewährung geahndet wurden, sollen nicht zu

einer Aufenthaltsbeendigung führen (so ausdrücklich BT-Drucks. 15/420, S. 84).

b) Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage sind diese Tatbestandsvoraussetzungen vorliegend erfüllt. [...]

Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Ausländerbehörde dem Antragsteller unter dem 21. Februar 2007 schriftlich mitgeteilt hat, sie werde aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik von einer Aufenthaltsbeendigung absehen und sich lediglich für den Fall weiterer Straftaten derartige Maßnahmen ausdrücklich vorbehalten. Die darin zum Ausdruck kommende Zusicherung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 BayVwVfG, aufenthaltsbeendende Maßnahmen ohne Hinzutreten weiterer Straftaten nicht zu ergreifen, steht der Annahme eines von der Regel des § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG abweichenden Ausnahmefalles entgegen. Die Antragsgegnerin würde sich andernfalls in Widerspruch zu ihrem vorherigen Verhalten setzen und den Antragsteller in seinem Vertrauen auf den Bestand der Zusage verletzen. Diese entfaltet als Selbstverpflichtung der Behörde bindende Wirkung (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., 2008, § 38 RdNr. 7 u. 33).

Dem vermag die Antragsgegnerin nicht mit Erfolg entgegenzuhalten, dass durch den Widerruf des Bestehens von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamtes eine neue Lage eingetreten sei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin den Widerruf selbst maßgeblich initiiert hat. Ihre Anfrage an das Bundesamt stammt vom selben Tag wie die mahnende Mitteilung an den Antragsteller. Die Behörde war sich bei dieser Mitteilung somit der Möglichkeit einer Widerrufsentscheidung des Bundesamtes bewusst und kann sich insoweit nicht auf Art. 38 Abs. 3 BayVwVfG berufen. Die Zusicherung im Schreiben vom 21. Februar 2007 beinhaltet entgegen der Ansicht der Ausländerbehörde auch nicht nur einen Verzicht auf die Geltendmachung von Ausweisungsgründen, sie erstreckt sich ihrem eindeutigen Wortlaut nach zugleich auch auf das Unterlassen aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Der Antragsgegnerin wäre es daher infolge ihrer Zusicherung vom 21. Februar 2007 verwehrt gewesen, dem Bundesamt am 7. März 2007 mitzuteilen, dass sie für den Fall eines unanfechtbaren Widerrufs eine Aufenthaltsbeendigung konkret beabsichtige. Für das vorliegende Verfahren ist deshalb davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin – sofern weitere Straftaten des Antragstellers nicht vorliegen – auf ihre Befugnis zur Aufenthaltsbeendigung verzichtet hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 -, NVwZ 2005, 220 [224]; HessVGH, Urt. v. 4.3.2002 - 12 UE 203/02 -, AuAS 2002, 172 [173 f.]).

Ungeachtet dessen sollen leichtere Straftaten, die lediglich mit Jugend- oder Freiheitsstrafe mit Bewährung geahndet wurden, nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung führen (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 84). [...]

Hiervon ausgehend ist zwar festzustellen, dass der Antragsteller bereits mehrfach einschlägig wegen Körperverletzungsdelikten in Erscheinung getreten ist. Dabei kam jedoch mit Ausnahme der letzten Verurteilung vom 15. Januar 2007, bei der der Antragsteller erstmals nach Erwachsenenstrafrecht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, jeweils Jugendstrafrecht zur Anwendung. Vor dem Hintergrund der oben ausgeführten gesetzgeberischen Wertung kann deshalb vorliegend – ungeachtet der bereits aus der Zusicherung folgenden Bindung – nicht von einem atypischen Ausnahmefall ausgegangen werden. Die vom Antragsteller verwirklichten Delikte bewegen sich – noch – innerhalb des vom Gesetzgeber vorgezeichneten Rahmens, in dem eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Abwägung mit den Schutz- und Bewahrungsinteressen der Allgemeinheit verantwortbar erscheint. Darüber hinaus ist zugleich auch den privaten Belangen des im Bundesgebiet aufgewachsenen und integrierten Antragstellers angemessen Rechnung zu tragen. [...]

Ebenso wenig steht einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis § 26 Abs. 2 AufenthG entgegen. Zwar darf die Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift grundsätzlich nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind. Dies schließt jedoch eine Verlängerung nach spezialgesetzlichen Normen, beispielsweise nach § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 3 AufenthG keineswegs aus, da andernfalls die vom Gesetzgeber beabsichtigte Privilegierung – hier nach fünfjährigem Besitz der Aufenthaltserlaubnis – konterkariert würde (vgl. hierzu auch Hailbronner, AuslR, Stand: Februar 2006, RdNr. 6 zu § 26 AufenthG). § 26 Abs. 2 AufenthG findet deshalb im Fall des § 26 Abs. 4 AufenthG generell keine Anwendung (vgl. HK-AuslR/Fränkel, 2008, RdNr. 11 zu § 26 AufenthG). Vor allem verlangt § 26 Abs. 4 AufenthG nicht, dass die Voraussetzungen für die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem fünften Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes noch erfüllt sind. Vielmehr eröffnet die Regelung nach Wortlaut, systematischer Stellung sowie Sinn und Zweck unabhängig von den Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen des befristeten Aufenthalts die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts (vgl. VGH BW, Beschl. v. 29.5.2007 - 11 S 2093/06 -, EZAR NF 24 Nr. 5, S 3). [...]