VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 10.12.2008 - M 8 K 07.50058 - asyl.net: M15054
https://www.asyl.net/rsdb/M15054
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Schiiten im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, Schiiten, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Verfolgungsdichte, politische Entwicklung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Schiiten im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid vom ... Januar 2007, mit dem das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sowie den Antrag des Klägers auf Änderung des Bescheids vom ... März 2005 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 abgelehnt hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie auf Feststellung von Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, er sei als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Schiiten gruppenverfolgt. Entgegen der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 14.11.2007 – 23 B 07.30496 – juris, nicht rechtskräftig), der eine Gruppenverfolgung von Sunniten durch Schiiten angenommen hat, geht das erkennende Gericht davon aus, dass der Kläger als Schiit nicht aus religiösen Gründen der Gruppenverfolgung ausgesetzt sein wird. In Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 60 Abs. 1 AufenthG vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist davon auszugehen, dass die Konflikte zwischen den Mehrheits-Glaubensgemeinschaften im Irak, die durch oben zitierte Erkenntnisquellen ausreichend belegt sind, nicht im Bereich des § 60 Abs. 1 AufenthG erörtert werden können. Die unbestritten lebensgefährliche Lage der Bevölkerung in bestimmten Gebieten des Zentralirak ist bestimmt durch die Zufälligkeiten des machtbedingt herrschenden Chaos mit bürgerkriegsähnlichem Charakter, nicht jedoch durch die zielgerichtete Ausgrenzung "aller Sunniten" durch "die Schiiten". Daran fehlt es nach Überzeugung des Gerichts in der Konstellation der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten, mithin den beiden größten Glaubensgruppen im Irak, jedenfalls in dieser Pauschalität. Das Gericht teilt ausdrücklich die Auffassung des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urteil vom 30.11.2007 – RN 3 K 07. 30194 – juris), wonach der Machtkampf innerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaft nicht gleichgesetzt werden kann mit der ausgrenzenden Verfolgung religiöser Minderheiten. Selbst wenn einzelne Verwaltungsgerichte (BayVGH, a.a.O.; VG Ansbach vom 19.04.2007 – AN 3 K 06.30312 – juris; VG München vom 25.01.2008 – M 11 K 07.50435; vom 11.01.2008 – M 1 K 07.50961) dies annehmen, so fehlt es jedenfalls angesichts der Größe der beiden Religionsgemeinschaften ohne Hinzukommen individueller gruppenbestimmender Momente an der für die Annahme für die Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Zutreffend verweist das Verwaltungsgericht Regensburg (a.a.O.) darauf, dass diese nur dann gegeben wäre, wenn für jeden Angehörigen der jeweiligen Gruppe landesweit nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit bestünde. Auch insofern unterscheide sich die Situation der Muslime im Irak, die regelmäßig auf den Rückhalt ihres Stammes zählen können und jeweils über Stammesgebiete verfügen, in denen dieser Rückhalt gegeben ist, in qualitativ erheblicher Weise von der Lage der religiösen Minderheiten. [...]

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Nach der geltenden Erlasslage ist die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger derzeit ausgesetzt, wobei nicht ersichtlich ist, dass der zugrunde liegende Erlass alsbald aufgehoben würde. Demzufolge ist davon auszugehen, dass die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin grundsätzlich ausgesetzt bleibt. Der Kläger gehört auch nicht zu dem Personenkreis, für den dieser Erlass mit Rundschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern (IMS) vom 17. April 2007 ausgesetzt wurde. Damit liegt eine Erlasslage im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3, § 60a AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Der Kläger bedarf somit nicht zusätzlich des Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Er ist deswegen nicht schutzlos gestellt. Denn sollte der ihm infolge der Erlasslage zustehende Abschiebungsschutz nach Rechtskraft entfallen, könnte er unter Berufung auf eine – dann noch bestehende – extreme Gefahrenlage jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vor dem Bundesamt verlangen.

Eine darüber hinaus gehende – landesweite – konkrete individuelle Gefährdung für Leib und Leben vermag das Gericht auch wegen seines Status als etwaiger Rückkehrer nicht zu erkennen.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Falle allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, richtlinienkonform dahin auszulegen sei, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen aufgrund einer individuellen Prüfung die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 c) der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt sind (BVerwG vom 24.06.2008 – 10 C 42.07, 43.07, 44.07 und 45.07 – NVwZ 2008, 1241 = AuAS 2008, 245). Im vorliegenden Fall sind keine Anhaltspunkte individueller konkreter Bedrohungen vor dem Hintergrund der Konflikte im Irak zu erkennen. Auch aus dem Vortrag insbesondere der Klagepartei vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach o.g. Richtlinie bei der Klagepartei gegeben wären. Weder religiöse Herkunft noch individuelle Funktionen noch individuelle Handlungsweisen noch die Historie der Klagepartei lassen auf erhebliche individuelle Gefährdungspotentiale aus innerstaatlichen Konflikten schließen, denen nicht generalisierend auch die gesamte Zivilbevölkerung ausgesetzt wäre. [...]