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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 02.12.2008 - 27 K 6399/08 - asyl.net: M15070
https://www.asyl.net/rsdb/M15070
Leitsatz:

Schwerhörigkeit oder Analphabetismus sind keine Gründe für eine Befreiung von den für die Anwendung der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 1 S. 5 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnissen.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Privatleben, Integration, EMRK, Aufenthaltsdauer, Altfallregelung, Sprachkenntnisse, Alter, Schwerhörigkeit, Analphabeten
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 5
Auszüge:

Schwerhörigkeit oder Analphabetismus sind keine Gründe für eine Befreiung von den für die Anwendung der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 1 S. 5 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnissen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage hat keinen Erfolg. [...]

Die Klägerin hat gegen den Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. [...]

Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG für eine Aufenthaltserlaubnis liegen ebenso wenig vor. [...]

Abschiebungsverbote bestehen aber auch nicht im Hinblick auf die durch Art. 8 EMRK (Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, Gesetz vom 7. August 1952 (BGBl. II 685, 953)) geschützten Rechte. Das hier allein in Betracht zu ziehende Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln, und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen (OVG NRW Beschluss vom 7. Februar 2006 – 18 E 1534/05 –, NVwZ-RR 2006, 576 = AuAS 2006, 110).

Es gewährt jedoch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Privat- oder Familienleben aufzubauen und verbietet nicht allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen oder vermittelt diesem ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat. Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt, auf Grund derer er in seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist, weshalb ihm bei einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Dem ist regelmäßig gegenüber zu stellen, inwieweit ein Ausländer noch im Land seiner Staatsangehörigkeit verwurzelt ist. Überwiegt diese Verwurzelung – z.B. bei langjährigem Aufenthalt im Heimatstaat und relativ kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland –, so ist regelmäßig bereits der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet. Bei Eröffnung des Schutzbereichs ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegen das Recht der Bundesrepublik auf Einwanderungskontrolle – insbesondere Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen – in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist (OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2006 – 18 A 3256/04 – mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).

Insoweit ist zum einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Dabei sind als Gesichtspunkte seine wirtschaftliche und soziale Integration, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthaltes in Deutschland, seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seine persönliche Befähigung von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist erneut zu fragen, inwieweit der Ausländer – wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland – von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2006, a.a.O.).

Nach diesen Grundsätzen kann die Unverhältnismäßigkeit einer Abschiebung der Klägerin nicht festgestellt werden. Die Klägerin ist im Alter von 35 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland aus dem ehemaligen Jugoslawien kommend eingereist. Sie hat ihre prägende Sozialisation im Heimatstaat erhalten und dort zunächst auch Verwandte zurückgelassen. Zwar hat sie vorgetragen, dass die familiären Bindungen abgerissen sind, nachdem ihr Vater im Heimatland gestorben und ihr Bruder K3 nach Mazedonien ausgewandert sei. Dessen ungeachtet bestehen die sprachlichen und kulturellen Bindungen zum Kosovo fort. Soweit ersichtlich, pflegt die Klägerin auch in Deutschland fast ausschließlich Kontakte zu Personen mit ähnlicher sprachlicher und kultureller Herkunft, insbesondere zu ihren beiden Söhnen. [...] Zudem ist auch keine im Lichte des Art. 8 Abs. 1 EMRK Rechtsfolgen auslösende Verwurzelung der Klägerin in Deutschland feststellbar. Ihre Aufenthaltsdauer in Deutschland von 14 Jahren ist zwar beachtlich und für sich genommen geeignet, Grundlage einer verfestigten Integration zu sein. Die Aufenthaltsdauer allein vermag sie aber nicht zu begründen. Eine soziale und sprachliche Integration der Klägerin in die hiesigen Lebensverhältnisse ist nicht erkennbar. Der in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Versuch der Kommunikation mit der Klägerin in deutscher Sprache kann auch unter Berücksichtigung der für sie angespannten Situation im Gerichtssaal nur als gescheitert betrachtet werden. Danach scheint ihr passiver Wortschatz kaum einfachen Anforderungen zu genügen. Auf die ihr in langsamer und deutlicher Aussprache gestellten kurzen Fragen konnte sie ganz überwiegend nicht sinnentsprechend antworten. Für eine aktive Anwendung der Sprache reicht dies noch weniger. Sie bedarf bis heute in weitem Umfang der Hilfe ihrer Söhne, um auch nur die unumgänglichen Kontakte zur deutschsprachigen Umgebung zu bewältigen (Behördengänge u.ä.). Weitergehende feste Bindungen in das gesellschaftliche Leben in Deutschland, aus denen sich eine Verwurzelung ableiten ließe, sind nicht ersichtlich. Ferner ist in den Blick zu nehmen, dass die Klägerin es in der enormen Zeitspanne von 14 Jahren nicht vermochte, auch nur ansatzweise eine wirtschaftliche Integration zu erreichen. Den Verwaltungsvorgängen des Beklagten lässt sich entnehmen, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt erwerbstätig war und dies bis heute nicht ist. Der Versuch einer schulischen oder beruflichen Qualifikation ist ebenfalls nicht im Ansatz erkennbar. [...]

Die Klägerin kann auch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG oder §§ 104a Abs. 1 Satz 2, 23 Abs. 1 AufenthG (gesetzliche Altfallregelung) beanspruchen. Sie erfüllt zwar mit einer Aufenthaltsdauer in Deutschland von 14 Jahren die zeitlichen Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Es fehlt jedoch an denn gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen hinreichenden mündlichen Deutschkenntnissen im Sinne der Stufe A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Die Klägerin hat nicht nachgewiesen, über Kenntnisse der deutschen Sprache in diesem Umfang zu verfügen. Weder hat sie durch die Teilnahme an einer Sprachprüfung entsprechende Deutschkenntnisse nachgewiesen noch konnten im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren die erforderlichen Sprachkenntnisse festgestellt werden.

Die gesetzliche Voraussetzung der hinreichenden Deutschkenntnisse in diesem Sinne beinhaltet nach den Hinweisen des BMI zum Richtlinienumsetzungsgesetz (Az. PGZU 128 406/1), Stand 18.12.2007 die folgenden sprachlichen Fähigkeiten:

– Kann eine einfache Beschreibung von Menschen, Lebens- oder Arbeitsbedingungen, Alltagsroutinen, Vorlieben oder Abneigungen usw. geben, und zwar in kurzen listenhaften Abfolgen aus einfachen Wendungen und Sätzen.

– Kann die Familie, Lebensverhältnisse, die Ausbildung und die gegenwärtige oder die letzte berufliche Tätigkeit beschreiben. Kann mit einfachen Worten Personen, Orte, Dinge beschreiben.

– Kann sich in einfachen, routinemäßigen Situationen verständigen, in denen es um einen unkomplizierten und direkten Austausch von Informationen über vertraute Routineangelegenheiten in Zusammenhang mit Arbeit und Freizeit geht. Kann sehr kurze Kontaktgespräche führen, versteht aber kaum genug, um das Gespräch selbst in Gang halten zu können.

– Kann verstehen, was in einem einfachen Alltagsgespräch langsam, deutlich und direkt an sie/ihn gerichtet gesagt wird, vorausgesetzt die sprechende Person gibt sich Mühe, ihm/ihr verstehen zu helfen.

– Kann sehr kurze Kontaktgespräche führen, versteht aber kaum genug, um selbst das Gespräch in Gang zu halten; versteht jedoch, wenn die Gesprächspartner sich Mühe geben, sich ihm/ihr verständlich zu machen. Kann einfache, alltägliche Höflichkeitsformeln verwenden, um jemanden zu grüßen oder anzusprechen.

– Kann jemanden einladen und auf Einladungen reagieren.

– Kann um Entschuldigung bitten und auf Entschuldigungen reagieren.

– Kann sagen, was er/sie gerne hat und was nicht.

– Kann in einem Interview einfache Fragen beantworten und auf einfache Feststellungen reagieren.

Bei dem Versuch in der mündlichen Verhandlung, sich mit der Klägerin in deutscher Sprache zu verständigen, zeigte sich, dass sie schon kurze, auf ihre Person und ihr Lebensumfeld bezogene Fragen nicht hinreichend verstehen konnte. Ihre Antworten trafen überwiegend den Sinn der ihr gestellten Fragen nicht, soweit sie überhaupt eine Antwort formulierte. Ihre aktiven Sprachkenntnisse reichten nicht aus, um auch nur annähernd einfache Wendungen oder Sätze zu bilden. [...]

Von der Voraussetzung der Deutschkenntnisse ist die Klägerin auch nicht gemäß § 104 a Abs. 1 Satz 5 AufenthG befreit. Danach wird von der Voraussetzung der Sprachkenntnisse abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann. Dies kann hier nicht festgestellt werden.

Altersgründe, die in diesem Sinne dem erforderlichen Spracherwerb entgegenstehen, liegen nach den Hinweisen des BMI zum Richtlinienumsetzungsgesetz (Az. PGZU 128 406/1), Stand 18.12.2007 bei allen Personen vor, die am 31. Dezember 2009 das 65. Lebensjahr vollendet haben werden. Die Klägerin unterschreitet diese Altersgrenze deutlich. Sie wird am Ende des Jahres 2009 erst das 51. Lebensjahr vollendet haben. Sie hatte während ihres bisherigen Aufenthaltes in Deutschland die Gelegenheit zum Spracherwerb in einem Lebensalter von 35 Jahren bis 50 Jahren. Dieses Lebensalter stellt kein Hindernis zum der Erwerb der nach § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnisse dar.

Die Klägerin ist auch nicht wegen der von ihr geltend gemachten Schwerhörigkeit von der Voraussetzung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG befreit. Zwar mag der Spracherwerb erschwert sein, wenn eine Person Geräusche und Stimmen tatsächlich nur erheblich eingeschränkt oder undeutlich akustisch wahrnehmen kann. Im vorliegenden Fall ist jedoch weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die von der Klägerin geltend gemachte Schwerhörigkeit nicht durch Hörgeräte hinreichend kompensiert werden konnte und kann. Hierfür liegen auch sonst keinerlei Anhaltspunkte vor. Die dargelegte Schwerhörigkeit vermag damit weder für sich genommen noch im Zusammenwirken mit weiteren geltend gemachten Faktoren ein wesentliches Hindernis für den Spracherwerb zu begründen.

Schließlich führt auch der von der Klägerin geltend gemachte Umstand, sie könne weder lesen noch schreiben (Analphabetismus), nicht zu einer Befreiung von der Voraussetzung des hinreichenden Spracherwerbs. Dabei mag unterstellt werden, dass der Erwerb einer Fremdsprache einer Person leichter fällt, die auch Worte und Texte in dieser Sprache zu lesen vermag. Insbesondere durch die Zuhilfenahme von Lehr- und Wörterbüchern, aber auch durch die Lektüre von Zeitungen und Beschriftungen dürfte eine Person, die Lesen kann, deutlich schneller und auf einem höheren Sprachniveau eine Fremdsprache erlernen können, als eine Analphabetin. Darauf kommt es hier aber nicht entscheidend an. Die Regelung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt ausdrücklich nur mündliche Sprachkenntnisse voraus, und zwar nach der schon gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten ununterbrochenen Aufenthaltszeit in Deutschland von mindestens sechs bzw. acht Jahren zum Stichtag am 1. Juli 2007 und auf einem verhältnismäßig einfachen Niveau. Es werden gerade Kenntnisse der in Alltagssituationen und im direkten persönlichen Umgang typischen Sprache erwartet, nicht dagegen höhere Sprachfertigkeiten, die die Fähigkeit zu lesen voraussetzen. Der Erwerb mündlicher Deutschkenntnisse in diesem Umfang innerhalb eines mehr als sechsjährigen Aufenthaltszeitraums in Deutschland wird durch Analphabetismus nicht unzumutbar erschwert.

Diese restriktive Handhabung entspricht auch der Intention des Gesetzgebers. Danach sollen nur diejenigen ausreisepflichtigen Ausländer in den Genuss der Altfallregelung gelangen, die seit Jahren geduldet und hier wirtschaftlich und sozial integriert sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Oktober 2008 – 17 E 1349/08 – unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/5065, S. 202).

Der Gesetzgeber geht dabei erkennbar davon aus, dass eine wirtschaftliche und soziale Integration mit dem Erwerb der Sprachkenntnisse in dem geforderten Umfang eng verknüpft ist: Ein Mindestmaß an mündlichen Deutschkenntnissen ist Voraussetzung und zugleich ein Indikator (neben anderen) für eine wirtschaftliche und soziale Integration. [...]