VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 26.11.2008 - M 23 K 04.51566 - asyl.net: M15075
https://www.asyl.net/rsdb/M15075
Leitsatz:

Alleinstehenden Frauen droht in Afghanistan geschlechtsspezifische nichtstaatliche Verfolgung; es steht dem Rechtsschutzbedürfnis eines Asylantragstellers nicht entgegen, wenn dieser ein Aufenthaltsrecht in einem Drittstaat erlangt hat.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Beanstandungsklage, Bundesbeauftragter, Rechtsschutzbedürfnis, freiwillige Ausreise, Drittstaat, Erledigung der Hauptsache, Afghanistan, Frauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Alleinstehenden Frauen droht in Afghanistan geschlechtsspezifische nichtstaatliche Verfolgung; es steht dem Rechtsschutzbedürfnis eines Asylantragstellers nicht entgegen, wenn dieser ein Aufenthaltsrecht in einem Drittstaat erlangt hat.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist auch nach der Ausreise der Beigeladenen und ihrer Heirat in ... zulässig. Der Beigeladenen fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Voraussetzung für die Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist grundsätzlich, dass ein schutzwürdiges Interesse an der Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung besteht und das Gericht nicht für unnütze oder unlautere Zwecke in Anspruch genommen wird. In Asylverfahren ist das Rechtsschutzinteresse des Asylbewerbers nicht nur bei Asylverpflichtungsklagen sondern auch in den Fällen zu prüfen, in denen der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten gegen anerkennende Entscheidungen des Bundesamtes eine Beanstandungsklage erhoben hat. Denn auch hier müssen die Sachentscheidungsvoraussetzungen bis zur letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung gegeben sein. Fällt nach Erhebung der Beanstandungsklage während des Klageverfahrens das Rechtsschutzbedürfnis für den Asylantrag weg, ist der Klage stattzugeben und die Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes aufzuheben (VGH Bad.-Württ., Urt. vom 14. 4. 1992, Az. A 16 S 211/91, zit. bei juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann in der Ausreise eines Asylklägers aus der Bundesrepublik Deutschland nach wirksamer Asylantragstellung in ein anderes Land jedenfalls dann nicht die Aufgabe des ernsthaften subjektiven Interesses an einer gerichtlichen Entscheidung über die Anerkennung gesehen werden, wenn der ausgereiste Ausländer den Asylrechtsstreit weiterbetreibt und sein fortbestehendes Interesse an der Erlangung eines anerkennenden Urteils bekundet und jederzeit in die Bundesrepublik zurückkehren könnte (BVerwG, NJW 1989, 2641).

Gemessen an diesen Maßstäben hat die Beigeladene, ihr fortbestehendes Interesse an der Erlangung einer für sie positiven, weil klageabweisenden Entscheidung ausreichend bekundet. Die Beigeladene hat mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 8. Mai 2006 mitgeteilt, dass sie den Rechtsstreit für erledigt erkläre, weil sie einen ... Staatsangehörigen geheiratet und eine ... Aufenthaltserlaubnis erhalten habe. Der rechtsirrigen Annahme des Bevollmächtigten der Beigeladenen, der Rechtstreit habe sich durch die Ausreise erledigt, ist gerade zu entnehmen, dass die Beigeladene weiterhin an der positiven Entscheidung des Bundesamtes festhalten möchte. Hätte sich der Rechtsstreit tatsächlich durch Ihre Ausreise erledigt, hätte dies gerade zu Gunsten der Beigeladenen die positive Folge gehabt, dass das gerichtliche Verfahren einzustellen wäre. Der Bescheid des Bundesamtes mit dem für die Beigeladene positiven Inhalt wäre bestandskräftig geworden. Letztlich hat der Bevollmächtigte der Beigeladenen auch mit Schreiben vom 21. September 2007 durch Hinweis auf den positiven Ausgang des gerichtlichen Verfahrens ihrer Schwester klargestellt, dass er die Entscheidung des Bundesamtes vom ... 2004 für richtig hält und daran festhalten möchte.

Die Klage ist unbegründet. Nach § 77 Abs. 1 AsylVfG ist in Streitigkeiten nach dem AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen. Die Beigeladene hat daher einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, der zum 1. Januar 2005 an die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 getreten ist. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig, soweit darin die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG1990 getroffen wurde und verletzt den Kläger insoweit nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Ergänzend weist das Gericht auf Folgendes hin:

Die Lage für Frauen in Afghanistan hat sich in der Zeit nach Bescheiderlass nicht nachhaltig verändert und verbessert. Dass die Situation von insbesondere alleinstehenden Frauen in Afghanistan, vorsichtig ausgedrückt, immer noch sehr schlecht ist, dürfte unter Zugrundelegung der erreichbaren Erkenntnismittel offensichtlich sein. Dies bestätigt auch der jüngste Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 7. März 2008 (S. 18 ff.). Die Menschenrechtslage afghanischer Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch häufig orthodoxe Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. Diese Prägungen wirken immer noch nach. Die Verwirklichung elementarer Menschenrechte bleibt für den größten Teil afghanischer Frauen weit hinter dem kodifizierten Recht zurück. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage – oder auf Grund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt – Frauenrechte zu schützen. Frauen werden traditionell in vielfältiger Hinsicht benachteiligt. Immer noch werden Frauen, selbst Vergewaltigungsopfer, wegen des Straftatbestands "Ehebruch" bestraft, zum Teil werden diese Frauen von ihren Ehemännern umgebracht (sog. Ehrenmorde). Der Lagebericht zeigt zahlreiche Beispiele von Repressalien und Benachteiligungen von Frauen in Afghanistan.

Auch andere Erkenntnismittel zeigen sehr eindrücklich, dass die allgemeine Lage für Frauen in Afghanistan katastrophal ist.

Die Beigeladene wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Situation ausgesetzt, die den Vorgaben für eine drohende sog. geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 und Satz 4 lit. c AufenthG entspricht. Die Beigeladene wäre in Afghanistan eine allein stehende Frau. Dass sie ausreichend Angehörige, Verwandte, Freunde oder sonstige nahestehende Personen in Afghanistan hätte, ist nach Aktenlage und den insoweit glaubhaften Angaben der Beigeladenen auszuschließen. [...] Wie die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausführt, wäre die Beigeladene im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage, sich gegen drohende menschenunwürdige, sog. geschlechtsspezifische Misshandlungen zur Wehr zu setzen. Auch eine Schutzgewährung durch die in Afghanistan tätigen Sicherheitskräfte ist nach den vorliegenden Erkenntnissen immer noch nicht erreichbar. Daher hätte die Beigeladene, um ihr Überleben zu sichern, lediglich die Möglichkeit, entweder der Prostitution nachzugehen (vgl. Gutachten Dr. Danesch an das VG München vom 31. 5. 2005, S. 14) oder sich einen männlichen Beschützer zu suchen, wobei selbst insoweit nicht sichergestellt ist, dass sie als tendenziell von Ausgrenzung bedrohte Rückkehrerin aus dem westlichen Ausland (vgl. hierzu Bericht "Rückkehr nach Afghanistan", insbesondere S. 12) hiermit Erfolg haben würde. Angesichts dessen, dass für die Beigeladene diese Optionen nicht zumutbar sind, ist davon auszugehen, dass im Falle einer Rückkehr die oben benannte Verfolgungsgefahr bestehen würde. Daher ist die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG geboten.

Auf die Frage der Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG hat keinen Einfluss, dass die Beigeladene durch ihre Heirat und ihren Wegzug unter Umständen in ... anderweitigen Verfolgungsschutz erlangt hat. Der weitergehende Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG schließt nicht aus, Abschiebungsschutz demjenigen ausländischen Bewerber zu gewähren, der aus einem sicheren Drittstaat in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelangt. Liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor, darf die Abschiebung nicht in den Verfolgerstaat angedroht werden. Die §§ 26a, 27 und 29 AsylVerfG stehen einer Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen. Nichts anderes kann gelten, wenn der Ausländer nach einer positiven, wenn auch nicht bestandskräftigen Entscheidung des Bundesamtes in einen sicheren Drittstaat ausreist. [...]