VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 26.11.2008 - 10 K 132/07 - asyl.net: M15077
https://www.asyl.net/rsdb/M15077
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, multiple Erkrankungen, koronale Gefäßerkrankung, Osteochondrose, Spondylosis deformans, Spondylarthorose, Lumboischialgie, Diabetes mellitus, Gastritis, Gonarthrose, Cervikobrachialgie, Hypertonie, Depression, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Pflege
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. [...] Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Syriens im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens. [...]

Beide Kläger leiden – was aufgrund der vorliegenden ärztlichen Atteste und der Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises A-Stadt vom 18.09.2008 nicht in Zweifel zu ziehen ist – an zahlreichen behandlungsbedürftigen Erkrankungen, und zwar sowohl an organischen Leiden als auch an erheblichen Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates, die dazu führen, dass beide Kläger bei ihrer Lebensführung auf fremde Hilfe angewiesen sind (im Einzelnen den Kläger zu 1 betreffend: koronare Drei-Gefäßerkrankung des Herzens nach Venenbypassoperation, arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, hochgradige, degenerative Veränderungen mit Osteochondrose, Spondylosis deformans und Spondylarthrose in HWS-und LWS-Bereich; die Klägerin zu 2 betreffend: chronische Lumboischialgie bei Bandscheibenvorfall, Diabetes mellitus, chronische Gastritis, Gonarthrose bds., chronische Cervikobrachialgie, arterielle Hypertonie, ausgeprägte depressive Perioden, chronische Schwindelanfälle bei rezidivierenden hypertensiven Krisen).

Zur medizinischen Versorgung in Syrien lässt sich zwar allgemein feststellen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der arabischen Republik Syrien vom 05.05.2008; vgl. speziell zu koronaren Herzerkrankungen: Botschaftsbericht von Deutschland vom 21.08.2003 an BAFl.; zur Behandlung von Diabetes mellitus: Botschaftsbericht von Deutschland vom 31.01.2002 an BAFl), dass diese im Grundsatz flächendeckend und kostenfrei ist. Auch wenn der Standard in öffentlichen Kliniken nicht westlichen Maßstäben entspricht, werden überlebensnotwendige Behandlungen und Therapien chronischer Leiden gewährleistet. Auch die Medikamentenversorgung ist grundsätzlich weitgehend sichergestellt.

Im Fall der Kläger kann aber aufgrund der besonders gelagerten Umstände nicht davon ausgegangen werden, dass die Finanzierung der Behandlung ihrer Erkrankungen und ihres Medikamentenbedarfs sowie der erforderlichen Betreuung sichergestellt ist. Nach der Auskunft des Deutschen Orientinstitutes an das VG Freiburg vom 26.05.2003 ist das Standardgesundheitssystem in Syrien zwar kostenlos, tatsächlich wird aber ein privates "Beigeld" erwartet, das auch allgemein bezahlt wird. Derjenige, der es nicht bezahlt, bekommt dies an seiner Gesundheit zu spüren. Die in Syrien praktizierenden privaten Ärzte sind für den Normalverbraucher zu teuer und müssen stets privat bezahlt werden. Medikationskosten sind für syrische Verhältnisse hoch und müssen privat getragen werden.

Dies vorausgeschickt ist im Fall der Kläger zu berücksichtigen, dass beide wegen ihrer Erkrankungen täglich jeweils mehrere verschiedene Medikamente einnehmen müssen. Der Kläger zu 1) muss Betablocker, Blutverdünner, Tabletten, die die Wasserausscheidung aus den Nieren fördern (Unat), Herzkreislaufmittel (Ascerbon), CSE-Hemmer (= Cholesterinsyntese-Hemmer; Simvastatin) einnehmen; die Klägerin zu 2) wird mit Schmerzmitteln und Diabetesmedikamenten behandelt. Hinzu kommt, dass wegen der Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates bei beiden Klägern ein Pflege- und Betreuungsbedarf besteht, was durch die erwähnte gutachterliche Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises A-Stadt belegt wird. Beide Kläger sind demzufolge im hauswirtschaftlichen Bereich nahezu vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Darüber hinaus besteht bei beiden Hilfebedarf bei der Körperpflege und Bekleidung. Die Klägerin zu 2) benötigt, abhängig von ihrer Tagesverfassung, zusätzlich Hilfe beim nächtlichen Erreichen der Toilette. Insoweit lässt sich also feststellen, dass beide in erheblichem Umfang auf fremde Hilfe angewiesen sind, weil sie sich wegen ihrer Leiden nicht gegenseitig unterstützen können. Die ärztlichen Behandlungskosten, den Medikamentenbedarf und die häusliche Pflege können die 1942 und 1955 geborenen Kläger nicht selbst finanzieren, denn sie sind aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und Geld zu verdienen. Angesichts dessen wären die Kläger, die in Deutschland durch ihre aufenthaltsberechtigte Tochter versorgt werden, in Syrien auf die finanzielle und praktische Unterstützung durch dort lebende Verwandte oder aber auf die Inanspruchnahme professioneller Pflegedienste angewiesen. Als familiärer Beistand kommt derzeit aber nur der Bruder der Klägerin zu 2) in Betracht, da der Sohn der Kläger im Libanon lebt und sich eine weitere Tochter von ihnen gegenwärtig ebenfalls in Deutschland als Asylbewerberin aufhält. Ungeachtet, ob der Bruder der Klägerin zu 2) überhaupt willens und in der Lage wäre, beide Kläger zu versorgen, ist zweifelhaft, ob die im Fall der Kläger erforderliche finanzielle und praktische Unterstützung von ihm auf Dauer geleistet werden könnte, zumal die Kläger sich nicht durch "Gegenleistungen" revanchieren können. Nach der Auskunftslage (Botschaftsbericht von Deutschland vom 22.04.2003 an VG Stade und vom 30.09.2007 an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) kann zwar die Hilfe für tägliche Verrichtungen und ggf. therapeutische Maßnahmen in Syrien geleistet werden, da insoweit geschultes Personal vorhanden ist. Die Kosten der Pflege müssten allerdings von den Kranken bzw. von seiner Familie getragen werden. Es wäre von monatlichen Pflegekosten in Höhe von ca. 300 US-Dollar auszugehen. Im Fall der Kläger würden sich diese Kosten aller Wahrscheinlichkeit nach verdoppeln, so dass der erforderliche Pflegebedarf auch durch die Inanspruchnahme von Pflegepersonal nicht gewährleistet sein dürfte.

Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass in Syrien auf absehbare Zeit eine adäquate medizinische und pflegerische Versorgung der Kläger nicht gewährleistet ist, was zu einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen würde, so dass bei ihrer Rückkehr nach Syrien eine Gefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen ist. [...]